Zum vorigen Beitrag Zur Übersicht Fachforum Zum nächsten Beitrag
Silke Goldbach

Konzeptentwicklung psychosozialer Beratung basierend auf sexualpädagogischer Theorie

Abschlussarbeit der sexualpädagogischen Zusatzausbildung bei AP Dortmund





Inhalt






I Einleitung

In meiner beruflichen Laufbahn wurde ich intensiv von Mädchen und Frauen mit Störungen in ihren Beziehungen (platonisch oder intim) und mit ihren sexuellen Nöten konfrontiert. Ich verspürte den Ehrgeiz eine Fachkompetente Ansprechpartnerin für dieses Klientel und die daraus resultierenden Fragestellungen zu werden. Ich entschloß mich die sexualpädagogische Zusatzausbildung bei AP Dortmund e.V. zu absolvieren. In der Ausbildung habe ich mich anhand des gesellschaftskritisch-emanzipatorischen Ansatzes mit der heutigen Sichtweise von Sexualität und speziell mit den Verbindungen von Sexualität, Macht und Aggression auseinandergesetzt.

Es wird in der Theorie darauf eingegangen, was unter dem sexualpädagogischen Ansatz von AP Dortmund e. V. verstanden wird. Ebenso wird darauf eingegangen, dass der sexualpädagogische Ansatz von AP Dortmund die Psychoanalyse als theoretische Ausgangsbasis sieht und einen ganzheitlichen Ansatz darstellt, der den Menschen in Harmonie von Körper, Seele und Geist betrachtet.

Basierend auf den erarbeiteten Grundlagen wird ein Konzept entwickelt zur Umsetzung psychosozialer Beratung.

Dieses wird anhand eines praktischen Fallbeispiels theoretisch erläutert und überprüft.

In dieser Bearbeitung der psychosozialen Konzeptentwicklung basierend auf sexualpädagogischer Theorie sollen Grundlagen gelegt und erörtert werden, wie sexualpädagogisch gearbeitet werden kann. Es wird klar ersichtlich, was die Autorin unter Sexualpädagogik versteht.

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird vornehmlich die weibliche Schreibweise genutzt. Der Begriff Frauenhaus wird mit FH abgekürzt.






II Konzeptentwicklung psychosozialer Beratung basierend auf sexualpädagogischer Theorie

1. Sexualpädagogische Theorie

Es gibt eine Vielzahl von sexualpädagogischen Theorien. In dieser Arbeit wird explizit der sexualpädagogische Ansatz von AP Dortmund e. V., der den gesellschaftskritisch-emanzipatorischen Ansätzen zugeordnet wird, erläutert. Ebenso wird das psychoanalytische Verstehen betrachtet. Der sexualpädagogische Ansatz von AP Dortmund e. V. basiert auf einem psychoanalytischen Verständnis und bildet so einen ganzheitlichen Ansatz der den Menschen in der Harmonie von Körper, Seele und Geist sieht. Das Gesamtkonzept von AP Dortmund legt darüber hinaus einen besonderen Schwerpunkt auf die angewandte Gruppendynamik, welche jedoch in dieser Arbeit unberücksichtigt bleibt, da sich zu Beantwortung der Aufgabenstellung an der Einzelberatung orientiert wird. Die folgenden Ausführungen bzgl. des sexualpädagogischen Ansatzes von AP Dortmund und des psychoanalytischen Verstehens erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es werden lediglich die Kernpunkte benannt, die für die Bearbeitung der Konzeptentwicklung relevant sind und entsprechend Schwerpunkte gesetzt.




1.1 Der sexualpädagogische Ansatz von AP Dortmund e. V.

Der sexualpädagogische Ansatz von AP Dortmund geht davon aus, dass es Frauen noch immer schwer fällt, sich aus sich selbst heraus zu definieren und somit ihre eigene Identität zu finden. Sexualität wird dabei als ein wesentlicher Bestandteil der Identität verstanden. Aus der Sicht von AP Dortmund ist die Lebensqualität von Frauen gemindert, wenn keine lustvolle und befriedigende Sexualität gelebt werden kann. In den Medien unserer Gesellschaft werden Frauen mit Sexualität vorwiegend als Opfer oder Prostituierte gezeigt. Es hat in unserer Gesellschaft lediglich ein scheinbarer Wandel stattgefunden. Frauen und Mädchen wird vermeintlich mehr Platz in der Gesellschaft für Sexualität eingeräumt. Es wird jedoch die sexuelle Attraktivität des Mädchens, oder der Frau angepriesen, um zu gefallen. Es wird nicht die selbstbestimmte Sexualität gefördert.

Um eine selbstbestimmte Sexualität leben zu können müssen Frauen aggressiv sein. Explizit gehört dazu die Fähigkeit Grenzen zu setzen. Grenzen setzten kann Frau nur, wenn sie Aggression zulässt, wenn sie sich Anforderungen, die an sie gestellt werden widersetzen kann und sich so vor Übergriffen schützen kann. Das Ausleben und akzeptieren der eigenen Aggression ist für Frauen und Mädchen heute immer noch schwer, weil sie beigebracht bekommen brav, still und gehorsam zu sein. So fehlen positive aggressive Vorbilder, mit denen sich Mädchen und Frauen identifizieren können. Aggression und Grenzen setzen wird für Frauen negiert (das gehört sich nicht für ein Mädchen etc.). Ebenso wird die selbstbestimmte Sexualität der Frau negiert. Frauen brauchen zur Umsetzung positiver selbstbestimmter Sexualität positive Aggression. Es wird davon ausgegangen, dass selbstbestimmte Sexualität von Frauen in unserer Gesellschaft nicht anerkannt wird und positive Vorbilder zur Identifikation weiblicher Sexualität fehlen. Wenn die Aggression, d. h. unter anderem das Grenzen setzen oder die Sexualität abgesprochen wird und diese abgespalten oder verdrängt wird, fehlen wichtige Bestandteile, um sich selbst zu definieren, d.h. die eigene Identität zu finden.

Die Sexualpädagogik ist ein geeignetes Mittel einen positiven Zugang zur eigenen Aggressivität sowie Sexualität und somit zur authentischen Ich-Identität zu erlangen. Fehlt einer Frau die Akzeptanz der eigenen Sexualität (gerade Frauen mit sexueller Gewalterfahrung neigen dazu) führt dies zur Verdrängung oder Abspaltung der Sexualität und so ist vielen Frauen ihre eigene Sexualität nicht bewußt zugänglich.

Um sich als sexuelles Wesen akzeptieren zu können, ist ein positiver Zugang zur eigenen Sexualität Voraussetzung. Eine Voraussetzung zur Akzeptanz der eigenen Sexualität ist der positive Zugang zur eigenen Aggression (vgl. GK Ww Do).

Der Weg zu und die Anerkennung der eigenen Aggressionen ist folglich der Weg zu und die Anerkennung der eigenen Sexualität.

Das Erkennen und bewußte Erleben der eigenen Aggressionen ist wichtig um verantwortlich mit dieser Gewalt umzugehen.


Diese Sichtweise von der Verbindung von Aggression und Sexualität verdeutlicht, dass im Beratungssetting der Zugang zur Sexualität der Frau immer über den positiven Zugang zur Aggression der Frau erfolgen muss. Folgendes Beispiel veranschaulicht unbewußt verdrängte Aggression und Autoaggression und die damit verbundene Wechselwirkung zur Sexualität: So kann eine Frau, die keine Sexualität mehr mit ihrem/r PartnerIn leben möchte unbewußt hochgradig aggressiv ihrem/r PartnerIn gegenüber und hochgradig autoaggressiv sein. Sexualität tritt immer in Verbindung mit Aggressivität auf. Wenn Aggressivität negiert wird und unbewußt abgespalten wird (es steht der Frau nicht zu ihre/n PartnerIn zu kritisieren, hat Angst davor und unterlässt es, oder sie möchte einem Streit aus dem Weg gehen und spricht ihre Aggressionen nicht aus, ja vergisst sie) steht dies in unmittelbarer Wechselwirkung zur Sexualität. Dabei ist die Abspaltung der Aggressivität unbewußt und nur der Mangel an Sexualität bewußt. Wenn Frau sich Aggressivität zugesteht und in Auseinandersetzung mit dem Mann geht, also einen positiven Zugang zu ihren eigenen Aggressionen bekommt, kann sie nachfolgend einen positiven Zugang zur eigenen Sexualität erlangen. Der sexualpädagogische Ansatz definiert Sexualität darüber, in eine mitmenschliche Beziehung zu treten. Beziehung wird hier folgendermaßen definiert:

Eine Beziehung (platonisch oder intim), ist immer dann gegeben, wenn ein gegenseitiges Nehmen und Geben besteht. In dem Vertrauen und der Gewissheit darauf, dass dies besteht, kann über einen längeren Zeitraum der egoistische oder altruistische Part gelebt werden. Gleichzeitig fühlt man sich beim Partner geborgen und hat Macht über ihn (seine Gefühle). Die Aggression (Macht haben wollen) wird in die Liebe integriert (vgl. Kernberg).

Würde die Aggression überwiegen, würde nach der eben genannten Definition keine Beziehung bestehen: Es würden Abhängigkeiten, masochistische Strukturen entstehen oder das Zerbrechen der Beziehung bevorstehen, denn

Sexualität definiert sich immer über die Beziehung, die zwischen zwei Menschen besteht. D.h. wenn nicht in Beziehung getreten wird, kann keine befriedigende Sexualität gelebt werden.

Aus diesem Verständnis heraus wird ersichtlich, dass eine Vergewaltigung keine gelebte Sexualität ist, sondern eine klare Machtdemonstration darstellt.




1.2 Das psychoanalytische Verstehen

Das psychoanalytische Verstehen meint den Umgang mit dem Unbewußten. Es wird davon ausgegangen, das Sexualität vorwiegend unbewußt abläuft. Infolgedessen muss sich in der sexualpädagogischen Beratung mit dem Unbewußten auseinandergesetzt werden. In diesem Zusammenhang spielen die unbewußten Widerstände eine besondere Rolle, denn das Erkennen und Analysieren von Widerständen wird als entscheidender Punkt betrachtet, die zu Beratende zu verstehen. Widerstände sind die Ängste die auftreten, wenn sich eine angstmachende Veränderung abzeichnet. "Obwohl die Klientin auf der bewussten Ebene eine Veränderung anstrebt, versucht sie unbewußt, das ehemals erreichte Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, da dies auch eine Reduzierung von Angst und Unsicherheit bedeutet" (GK Ww Do S.5).

Der Umgang mit Angst, die davon abhängigen Verhaltensweisen und die Partnerwahl ist für diese Arbeit der Konzeptentwicklung von zentraler Bedeutung.

Riemann geht in seiner tiefenpsychologischen Studie davon aus, dass der Mensch vier Grundimpulse in sich trägt, die jeweils mit gegensätzlichen Ängsten verbunden sind und, je nach Ausprägung der Angst, intensive Verhaltensweisen oder Widerstände hervorrufen können. Denn jede Veränderung und jeder Entwicklungsschritt ist mit Ängsten verbunden und jede Überwindung von Angst führt zur Ich-Identität. Riemann vertritt die Position, dass alle Ängste, die von Menschen erlebt werden, auf die vier Grundängste zurückzuführen sind, die in Wechselwirkung zu den Grundstrebungen stehen.




1.2.1 Die vier Grundstrebungen und -ängste nach Riemann

    Die erste Grundstrebung ist,
  • das Annehmen und Entwickeln der Einmaligkeit, der Identitätsbildung, der Selbständigkeit
  • verbunden mit der Grundangst vor dem Ich-Verlust, der Selbsthingabe mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins als Bedrohung erlebt

    Die zweite Grundstrebung ist,
  • sich vertrauensvoll dem Anderen zu öffnen, eine Einheit zu bilden, sich mit dem Anderen zu identifizieren, die Selbsthingabe
  • verbunden mit der Grundangst vor der Selbstwerdung, der Selbständigkeit mit dem Gefühl der Einsamkeit und Isolation als Bedrohung erlebt

    Die dritte Grundstrebung ist
  • das Bedürfnis nach Dauer, Beständigkeit und Gültigkeit
  • verbunden mit der Grundangst vor der Wandlung mit dem Gefühl der Vergänglichkeit als Bedrohung erlebt

    Die vierte Grundstrebung ist
  • das Bedürfnis nach Wandlung, Weiterentwicklung und Veränderung
  • verbunden mit der Grundangst des Festgelegt seins, des im Gewohnten verhaften mit dem Gefühl der Endgültigkeit und Unfreiheit als Bedrohung erlebt



Diese vier Grundimpulse sind bei jedem Menschen vorhanden und rufen prinzipiell vier Möglichkeiten hervor, wie in einer Lebenssituation, in mitmenschlichen Beziehungen oder mit Aufgaben umgegangen wird.

Zu 1. – es wird erkannt und sich davon distanziert
Zu 2. – es wird liebend identifiziert
Zu 3. – es wird wie ein Gesetz auf sich genommen
Zu 4. – es wird den eigenen Wünschen gemäß umgewandelt (vgl. Riemann)

Nach Riemann ist das Gesündeste, wenn situationsadäquat reagiert werden kann und alle vier Handlungsweisen zur Verfügung stehen. Meistens wird jedoch eine Handlungsweise überwertig gelebt, da eine der vier Grundängste stärker erlebt wird als die anderen. Dabei ist oft die Grundangst der Person unbewußt und nur das erlebte Gefühl bewußt. In der Psychoanalyse werden hier verschiedene Charakterstrukturen zugeordnet, wobei die Zuordnung dieser Charakterstrukturen einen besonders kritischen Umgang erfordert, um Stigmatisierungen zu vermeiden. Das Modell bietet eine Möglichkeit zu erklären, wie Menschen gebunden an ihre Ängste reagieren und ihre/n PartnerIn wählen können. Ebenso neigt der Mensch zur Vervollkommnung und sucht in der Partnerschaft das, was er selbst nicht hat oder kann. "Denn nichts pflegt uns stärker zu faszinieren, als wenn ein anderer überzeugend das vorlebt, was wir selbst auch als Möglichkeit in uns ahnen, aber vielleicht unterdrückt, oder nicht zu leben gelernt haben bzw. nicht leben durften" (Riemann, S. 204/205).




1.2.2 Die Zuordnung der Charakterstrukturen nach Riemann

Es werden nun die jeweiligen Charakterstrukturen aufgeführt, um zu verdeutlichen, welche Anziehung und Faszination der Gegenpart ausübt.

Der Schizoide, der aus Angst vor dem Ich-Verlust den nahen mitmenschlichen Kontakt meidet, "ahnt die Liebesbereitschaft und Liebesfähigkeit des Depressiven, seine Opferbereitschaft, sein einfühlendes Sich-Bemühen und Sich-selbst-Zurückstellen; er ahnt hier, wenn überhaupt, die Chance der Erlösung aus seiner Isolierung, die Möglichkeit, am Partner etwas nachzuholen, was er nie erleben durfte: vertrauen und sich aufgehoben fühlen. Hier bestände die Faszination darin, daß der Schizoide im Depressiven Möglichkeiten spürt, die auch in seinem Wesen angelegt sind, aber nicht ausgesprochen wurden in seiner Entwicklung.

Und andererseits fasziniert den Depressiven am Schizoiden, daß dieser etwas lebt, was er nicht zu leben gewagt hat bzw. nicht leben durfte: unabhängiges Individuum zu sein, ohne Verlustangst und Schuldgefühle. Zugleich spürt er, daß hier jemand ist, der seine Liebesbereitschaft dringend braucht" (Riemann, S.205).

Den zwanghaften Menschen fasziniert die "Risikofreudigkeit und Aufgeschlossenheit für alles Neue seines hysterischen Gegentyps, weil er selbst so überwertig am Gewohnten festhält, immer auf Sicherheit bedacht ist und so sein Leben, wie er selbst spürt, unnötig einengt. ..."

Entsprechend ist der hysterische Typ fasziniert von seinem Gegentyp, "... weil dieser die Stabilität, Solidität, die Konsequenz und Verläßlichkeit, dieses In-der-Ordnung-Leben hat, das ihm so fehlt" (Riemann, S.206)

Es zeigt sich, dass aus tiefenpsychologischer Sicht die Menschen instinktiv ihren Gegenpol suchen, um sich zu vervollständigen. Es liegt eine große Chance der Weiterentwicklung des Individuums durch das Verstehen des Partners vor. Die Verschiedenhaftigkeit kann in ihren Extremformen aber auch gerade Schwierigkeiten hervorrufen und es wird dem Partner genau das vorgeworfen, was zuerst faszinierend war.

König beschreibt noch zwei weitere Charakterstrukturen: die phobische und die narzistische Charakterstruktur. Da diese Konzeptentwicklung den Fokus auf das Verstehen und Konfrontieren mit Verhaltensweisen und Partnerwahl legt, soll hier nicht weiter differenziert werden. Infolgedessen werden die phobische und die narzistische Struktur den Grundimpulsen und Grundängsten nach Riemann untergeordnet. Die phobische wird der zwanghaften Struktur, dem Streben nach Dauer und Beständigkeit zugeordnet. Die narzistische wird der schizoiden Struktur zugeordnet, dem Streben nach Ich-Identität.




2. Aufbau der Beratung anhand einer Falldarstellung

Die Konzeptentwicklung psychosozialer Beratung, basierend auf sexualpädagogischer Theorie soll durch das Fallbeispiel einer Frau im Frauenhaus dargestellt werden. Der Aufbau der Beratung ist explizit durch die gerade beschriebenen Erkenntnisse geprägt.

In dieser Konzeptentwicklung soll den Fragen nachgegangen werden, warum sich Menschen in Beziehungen gefunden haben und wozu, z. B. eine anscheinend unglückliche Beziehung dem Individuum nützt? Was bietet der/die PartnerIn dem Gegenüber? Kann eine Partnerschaft vor eigenen Ängsten schützen? Bietet eine Partnerschaft Schutzraum? Wie kann sich jeder in der Partnerschaft weiterentwickeln? Otto F. Kernberg ist in seinem Buch Liebesbeziehungen konkret den Fragen nachgegangen: "Was hält Paare zusammen? Was zerstört ihre Beziehungen?" (Kernberg, S. 10).

In dieser Konzeptentwicklung psychosozialer Beratung wird die zu beratende Frau mit ihren Handlungsweisen konfrontiert, um einen Zugang zu ihren Ängsten und Aggressionen zu finden, wodurch Entwicklungsschritte gegangen werden können, die die Voraussetzungen für einen positiven Zugang zur eigenen Sexualität ermöglichen.




2.1 Rahmenbedingungen und Vereinbarungen

Jeder neuen Frau, die ins Frauenhaus kommt wird nach ca. einer Woche Eingewöhnungszeit und innerlicher Beruhigung ein zusätzliches Beratungsangebot bereit gestellt. Die Frau entscheidet ob sie dieses Beratungsangebot annehmen möchte, in dem speziell auf die Beziehungen geschaut wird, in denen sie lebt und eine Rollenklarheit geschaffen werden soll. Das Angebot umfasst fünf Stunden, je ca. 50 min pro Woche. Wenn die Frau das Angebot annimmt, werden gemeinsam Termine vereinbart und schriftlich festgehalten. Die Gespräche finden in einem ruhigen störungsfreien Raum statt.


2.1.1 Zielrichtung

Im Folgenden ist anhand von Fragestellungen die Zielrichtung der jeweiligen Stunden aufgezeigt. Dabei überschneiden sich jeweils zwei Stunden, weil vorher nicht genau eingeschätzt werden kann, wieviel Zeit konkret benötigt wird. Es soll sichergestellt sein, dass ein zeitlich strukturierter Rahmen gegeben ist, jedoch flexibel auf die jeweilige Situation der Frau reagiert werden kann. Die Beratung ist in der Weise aufgebaut, dass in der ersten Stunde ein Genogramm erstellt wird, um genau aufzuzeigen in welchen Beziehungen bzw. Nicht–Beziehungen sich die Frau befindet. Es wird in der Beratung darauf geachtet, das die Struktur eingehalten wird. Rollenklarheit und eine klare Struktur im beraterischen Prozess sollen den Weg der Frau zu ihren eigenen Ängsten, zur eigenen Aggression und zur eigenen Identität sowie Sexualität ebnen.

  • 1. – 2. Sitzung:
  • Erstellen des Genogramms; markieren von positiven und schwierigen Beziehungen; Klärung welche Beziehungen Kraft geben und welche Beziehungen Kraft fordern; welche Rolle übernimmt die Frau?
    Verhaltensweisen der Frau aufzeigen und konfrontieren.
     
  • 2. – 3. Sitzung
  • In welchen Beziehungen ist ein Geben und Nehmen vorhanden? Welche Probleme hat die Frau mit ihrem Partner? Welche Probleme/Einschränkungen ergeben sich daraus für die Frau? Welche Rolle übernimmt die Frau durch die Probleme mit dem Partner? Welche Rolle übernimmt die Frau bei anderen Menschen? Gibt es Diskrepanzen? Was ist ihr Selbstbild? Wie sieht ihr Fremdbild aus? Verhaltensweisen der Frau aufzeigen und konfrontieren.
     
  • 3. – 4. Sitzung:
  • Was löst das Verhalten des Partners bei der Frau aus? Reagiert sie? Agiert sie? Hat sie Angst, Wut, Aggressionen? Wo hat Frau ihre Wut/Aggression gespürt und rausgelassen? Was sind ihre Ängste? Verhaltensweisen der Frau aufzeigen und konfrontieren. Potenzen und Entwicklungsmöglichkeiten bei Anerkennung der eigenen Aggressionen erarbeiten. Der Weg zu und die Anerkennung der eigenen Aggressionen ist der Weg zu und die Anerkennung der eigenen Sexualität.
     
  • 4. – 5. Sitzung:
  • Fühlt sich Frau blockiert? Wie kann sie dies ändern? Was hat und hatte sie von ihrer Partnerschaft? Haben ihre bisherigen Verhaltensweisen sie davor geschützt Veränderungen einzugehen, die Angst machen (Ich-Verlust, Selbstwerdung, Veränderung, Festgefahrenheit)? Verhaltensweisen der Frau aufzeigen und konfrontieren. Potenzen und Entwicklungsmöglichkeiten bei Angstüberwindung erarbeiten.

Durch das psychoanalytische Verstehen, d. h. dem tieferen Verständnis der Verhaltensweisen soll die zu beratende Frau in der positiven Objektbeziehung im Hier und Jetzt konfrontiert werden und ihr Verhalten bewußt werden. Die Beraterin stellt konsequent ihr Wissen zur Verfügung. Die Beratung soll dazu führen, dass die zu Beratende in realen Kontakt mit sich selbst tritt, ihr Selbst- und Fremdbild erfährt, ihre Bedürfnisse und die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen erlebt und so ein Stück Weg zur authentischen Ich-Identität gehen kann.




2.2 Falldarstellung

Eine deutsche Frau, 36 Jahre, kommt mit ihren drei Kindern (ein Junge 14 Jahre, zwei Mädchen 12 und 5 Jahre) ins Frauenhaus. Der Junge geht zur Realschule; das 12-jährige Mädchen geht zur LB-Schule; das 5-jährige Mädchen geht in einen Kindergarten. Die Frau regelt in den ersten Tagen mit den FH Mitarbeiterinnen den weiteren Schul- und Kindergartenbesuch ihrer Kinder. Die Frau ist seit 18 Jahren mit ihrem Mann zusammen und seit 15 Jahren mit ihm verheiratet. Alle drei Kinder stammen von ihrem Mann. Sie hat bis zum Einzug ins Frauenhaus mit ihm zusammengelebt. Die Frau kommt aus der Mittelschicht. Sie hat einen guten Bildungsstand und war durch ihre Kinder die letzten 14 Jahre Hausfrau und Mutter.

Bei Einzug ins Frauenhaus macht die Frau einen sehr geschwächten, labilen und verängstigten Eindruck. Sie erzählt unter äußerster Anspannung, sie käme sich vor wie im Film, hätte nie gedacht, dass sie einmal ins Frauenhaus gehen würde, aber der Druck sei einfach zu groß gewesen. Sie hätte nicht gewußt was jetzt noch von ihrem Mann aus passiert wäre, wenn sie geblieben wäre. Sie hätte einfach sofort gehen müssen und habe nicht gewußt wohin. Da sei sie zur Polizei gegangen und hätte berichtet, dass sie auf keinen Fall in die gemeinsame Wohnung zurück gehen könne. Die Polizei habe ihr darauf hin die Adresse des Frauenhauses gegeben.

Nach Angaben der Frau ist ihr Mann psychisch krank. Er ist tatsächlich drei Tage nach Ankunft der Frau suizidal in eine psychiatrische Klinik gegangen.

Bei Aufnahme einer Frau ins Frauenhaus werden vorerst keine detaillierten Fragen zur Gefahrenprognose gestellt (diese Fragen gehen meist direkt von der Polizei aus). Meist verläßt die Frau nach akuten Misshandlungen und/oder nach einem emotionalen Zusammenbruch den gemeinsamen Wohnort. Das Frauenhaus ist ein Schutzhaus für Frauen mit ihren Kindern, die von Gewalt betroffen oder bedroht sind.

Die Frau nimmt das Beratungsangebot an und vereinbart Termine.






3. Durchführung der Beratung


3.1 Erste Sitzung

Physische und psychische Verfassung der Frau:
Sie betritt sehr zögernd den Raum, duckt sich beim Betreten des Raumes, guckt sich um, wirkt sehr ängstlich und nervös. Sie ist blaß und hat starke Ringe unter den Augen.

Nach der Begrüßung wird der Frau erklärt, was ein Genogramm ist und ihr wird vorgeschlagen zur Verdeutlichung ihrer Lebensbezüge gemeinsam ein Genogramm zu erstellen. Es wird erklärt, dass nicht nur die Kleinfamilie aufgezeichnet wird, sondern auch Großeltern, Geschwister, Tanten oder andere wichtige Personen. Es werden die üblichen Zeichen, ein Quadrat für einen Mann und ein Kreis für eine Frau gewählt. Die Frau fängt an zu weinen als sie sieht, wie sie mit ihrem Mann zusammen auf das Papier gezeichnet wird. Sie wolle jetzt ihren Mann nicht hier haben, sie wolle gar nicht über ihn sprechen, sie wolle auch nicht seinen Namen aussprechen. Er wäre einfach nur er, und sie wolle, dass er ganz weit weg ist.

Es wird eine Pause eingerichtet und erklärt, dass die Frau hier im FH Schutz habe und somit über die beste Möglichkeit verfüge, sich über ihre jetzige Situation klar zu werden und dann zu entscheiden, welche Richtung sie zukünftig in ihrem Leben einschlagen wolle. Es wäre eine gute Gelegenheit für sie, sich jetzt mit ihrer Situation und ihrem Mann auseinanderzusetzen, gerade weil er weit weg ist und hier nicht auf sie einwirken kann. Hier könne nur sie Entscheidungen treffen. Ebenso könne sie sich auf die Zeit vorbereiten, wenn sie nicht mehr im FH ist und mit ihm konfrontiert wird. Die Beraterin stellt die Frage, ob die Frau nun weiter machen wolle, welches die Frau bejaht.

Im weiteren Verlauf wird in dieser Stunde vermehrt auf die Beziehungen zwischen der Frau und ihrer Mutter, ihren Schwestern und den Schwiegereltern eingegangen. Es wird farbig gekennzeichnet welche Beziehungen für die Frau tragend sind, welche ihr Kraft und Unterstützung geben können und welche sie eher Kraft kosten. Es zeigt sich, dass zwischen der Frau und ihrer jüngsten Schwester eine Beziehung von gegenseitigem Nehmen und Geben besteht, die durch Vertrauen getragen wird.




3.1.1 Reflexion der ersten Sitzung

Die Frau hatte einen Widerstand aufgebaut, um nicht über ihren Mann zu reden. Es hat ihr Angst gemacht sich Dingen zu stellen, die mit ihrem Mann zu tun haben. Sie hatte mit ihrem Widerstand Erfolg. Das Thema die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann wurde erst einmal ruhen gelassen.

Die Frau hat Angst in der Sitzung vor ihrem Mann geäußert, ihr Mann war aber nicht da. Wovor hatte sie reale Angst? Ist die Beziehung zwischen der Frau und ihrem Mann eine Beziehung, die von gegenseitigem Nehmen und Geben getragen wurde? Nutzt die Beziehung der Frau im Hinblick auf ihre Angstvermeidung? Welchen Ängsten braucht sie sich durch ihre Bindung nicht stellen, welche Grundstrebung lebt sie durch ihre Ängste überwertig?

In der nächsten Stunde soll auf die besprochenen familiären Beziehungen eingegangen werden und dann mit der Frau ihre Beziehung und ihre Rolle ihrem Mann gegenüber besprochen werden. Um Angstblockaden vorzubeugen, soll die Frau zuerst von den schönen Seiten ihrer Beziehung berichten.




3.2 Zweite Sitzung

Physische und psychische Verfassung der Frau:
Sie duckt sich beim Betreten des Raumes guckt um sich, wirkt nervös. Sie ist blaß und hat leichte Augenringe.

Nach der Begrüßung geht die Beraterin kurz auf die familiären Beziehungen ein. Die Frau fängt an zu weinen, weil sie eine erhoffte Unterstützung, in Bezug auf eine evtl. Telefonanmeldung in einer evtl. neuen Wohnung, von ihrer Mutter nicht erhält. Die Frau wird damit konfrontiert, dass sie schon angedeutet habe, dass sie von ihrer Mutter keinerlei finanzielle Unterstützung bekäme und dass diese ihr deutliche Grenzen setzen würde. Die Beraterin fragt, ob die Frau meine, dass ihre Schwester, sie in dieser Angelegenheit unterstützen könne. (Dadurch, dass die Frau hoch verschuldet ist kann sie selbst keinen neuen Telefonanschluß beantragen). Die Frau bejaht dies. Die Beraterin erklärt der Frau, dass sie heute gerne mit ihr die Beziehung zu ihrem Mann besprechen möchte, dass sie doch einfach mal von den Anfängen erzählen solle. Es gäbe neben all dem Stress doch auch sicherlich gute Seiten zu berichten.

Die Frau erzählt, dass es eigentlich nie gut gewesen sei. Einmal, da sei sie 19 Jahre alt gewesen, da habe er ihr das Nasenbein gebrochen, weil er ihr mit dem Motorradhelm ins Gesicht geschlagen habe. Er habe dies immer verharmlost. Die Beraterin konfrontiert die Frau damit, dass sie sich gar nicht vorstellen könne, dass für die Frau nichts positives in der Beziehung war. Die Frau habe 18 Jahre ihres Lebens mit ihrem Mann geteilt. Die Frau wirkt hilflos, schaut zu Boden. Die Beraterin fragt sie nach den Geburten von den Kindern, wie die Zeit war und ob sie Unterstützung von ihrem Mann hatte. Die Unterstützung wird von der Frau verneint. Er wäre stolz auf seinen Sohn gewesen und in die jüngste Tochter wäre er zuerst ganz vernarrt gewesen, aber er habe sich dann zurück gezogen, als die ersten Probleme auftauchten. Mittlerweile sei es ganz schlimm zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn.

Darauf hin möchte die Frau ausführlich von der Beziehung zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn erzählen. Die Beraterin weist darauf hin, dass dies gerne in der nächsten Stunde erfolgen kann, dass für diese Stunde vereinbart wurde die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann zu besprechen.

Die Beraterin fragt danach, was denn so schwierig in der Beziehung zu ihrem Mann gewesen sei. Darauf hin erzählt die Frau ausführlich, wie sie die ganzen Jahre versucht habe, die Stimmungen ihres Mannes richtig zu deuten und richtig darauf zu reagieren, damit er nicht ausflippe. Sie habe versucht es ihm recht zu machen, damit er sich erst gar nicht aufrege. Sie sei ihm zuliebe im Haus geblieben, obwohl sie so gerne einfach einmal raus, spazieren gegangen wäre. Dadurch seien die Kinder auch viel zu viel im Haus geblieben usw.




3.2.1 Reflexion der zweiten Sitzung

Die Frau hat ihr Leben nach den Bedürfnissen ihres Mannes ausgerichtet. Sie hat versucht, alle seine Wünsche zu erfüllen, damit der Haussegen nicht schief hängt. Sie hat ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse völlig zurückgesteckt, im Grunde schon aufgegeben gehabt, um sich identifizierend mit ihrem Mann um seine Belange zu kümmern. Bei der Frau scheint das Streben nach einer Einheit überwertig gelebt zu werden. Für dieses Streben nach einer Einheit und dem Verdecken der eigenen Angst, stellt diese Frau über Jahre ihre eigenen Bedürfnisse zurück. D. h. die Angst vor der Selbstwerdung, als Einsamkeit erlebt, scheint sehr groß zu sein. Die Frau ist sehr aktiv, letztlich ist es jedoch ein reagieren auf ihren Mann und so setzt sie kaum eigene Impulse.

In der nächsten Stunde wird mit der Frau zunächst auf die Beziehung zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn eingegangen und dabei genau die Rolle der Frau betrachtet. Danach soll die Frau mit ihrer Angst vor der Einsamkeit und der Frage nach ihrer Selbstwerdung konfrontiert werden. Zusätzlich soll die Angst vor Veränderung sowie das Thema Reagieren/Agieren angesprochen werden.




3.3 Dritte Sitzung

Physische und psychische Verfassung der Frau:

Sie duckt sich beim Betreten des Raumes, lächelt die Beraterin an. Sie ist blaß, wirkt ruhiger.
Nach der Begrüßung wird das Thema Vater-Sohn eingeleitet. Die Frau erzählt ausführlich, dass besonders in den letzten zwei Jahren die Schwierigkeiten zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn zugenommen hätten. Dabei liefere ihr Sohn gar keinen offensichtlichen Grund. Er sei weder besonders unfreundlich noch aufmüpfig, aber ihr Mann habe immer etwas an ihm gefunden, was er kritisieren konnte oder weshalb er zuschlagen konnte. Auf die Frage, was die Frau dann getan hätte, erzählt sie, sie habe immer versucht zu vermitteln, sei zu beiden einzeln hingegangen, habe versucht den Mann zu beruhigen, den Sohn zu trösten usw. Es wird mit der Frau besprochen, dass sie sich völlig verausgabt habe, um das Gleichgewicht zwischen ihrem Sohn, ihrem Mann und ihr zu halten. Es wird thematisiert, dass sie unendlich viel Kraft investiert habe. Dass ihr der Familienzusammenhalt ein sehr großes Bedürfniss war und dass sie darüber hinaus ihre weiteren Bedürfnisse völlig zurückgestellt habe. Ebenso wird besprochen, dass die Frau in der Rolle des Reagierens auf ihren Mann und ihren Sohn verhaftet war. Die Beraterin bespricht mit der Frau, dass sie glaube, dass die Frau einen positiven Abgewinn von der Bindung hatte durch den sie so lange in dieser Bindung geblieben ist. Die Frau wird gefragt, was sie meine wovor sie mehr Angst gehabt habe, vor der Veränderung alles aufzugeben und ins FH zu gehen, oder vor der Eigenständigkeit und dem alleine leben. Die Frau beschreibt, dass sie noch nie alleine gelebt habe und Angst vor der Reaktion ihres Mannes und ihrer Mutter gehabt habe. Sie habe Angst davor gehabt, als völlig mittellose Versagerin dazustehen. Eigentlich habe sie auch gar nicht ernsthaft darüber nachgedacht wirklich zu gehen, aber als es wieder einmal zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn so schlimm gewesen sei, habe ihr Sohn ihr gesagt, dass er am liebsten abhauen würde. Und nach wieder einem solchen Tag habe sie einfach gehen müssen.




3.3.1 Reflexion der dritten Sitzung

Die Beraterin sollte mehr auf die Ich-Identität, Selbständigkeit und das Agieren der Frau eingehen. Der Frau scheint die Angst vor der eigenen Identitätsfindung und Selbständigkeit nicht bewußt zu sein und nur die Angst vor der Einsamkeit wird von ihr bewußt erlebt.

Die Frau hat das Gefühl sich völlig umsonst für das Gleichgewicht zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn verausgabt zu haben. Ihr ist nicht bewußt, dass sie davon profitiert hat sich zu verausgaben, weil durch das Erreichen des Gleichgewichtes zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn für sie sichergestellt war, dass die familiäre Bindung weiter bestehen kann.

Wenn die Frau handelt, übernimmt sie in dem Moment Verantwortung, weil das Resultat von ihr selbst bewirkt wird. Hier in diesem Fallbeispiel reagiert die Frau gebunden an ihre Ängste auf ihren Mann und ihren Sohn. Im Grunde zwingt sie der Sohn dazu sich ihren Ängsten zu stellen und Entwicklungsschritte zu gehen, weil die Frau Angst hat, sonst möglicherweise ihren Sohn zu verlieren.

In der nächsten Stunde soll die Frau mit ihrem Selbst- und Fremdbild konfrontiert werden. Die Frau soll ein Gefühl dafür entwickeln, wie es ist, sich selbst zu spüren, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, besonders die eigene Aggression zu spüren und danach eigenverantwortlich zu handeln.




3.4 Vierte Sitzung

Physische und psychische Verfassung der Frau:

Sie duckt sich beim Betreten des Raumes, wirkt ruhiger, sieht erholt aus.
Nach der Begrüßung wird mit der Frau geklärt, ob sie sich in dieser Stunde darauf einlassen könne zu erarbeiten, wie sie sich selbst einschätzt und wie sie durch die Beraterin eingeschätzt wird. Der Frau wird mitgeteilt, dass der Eindruck entstanden ist, sie habe sich seit ihrer Ankunft im FH körperlich und seelisch erholt. Ebenso wird der Frau gesagt, dass sie im FH als sehr selbständig erlebt wird, da sie alle Angelegenheiten, die ihre Kinder betreffen, selbst regelt. Sie handele selbst und treffe dabei selbständige Entscheidungen. Der Frau wird mitgeteilt, dass ihr sehr gut zugetraut wird, selbständig und alleine mit ihren Kindern zu leben, wenn sie dies wolle. Die Frau antwortet sehr lebendig, dass sie auf keinen Fall zurück zu ihrem Mann gehe. Sie sei auf intensiver Wohnungssuche. Sie habe ihre Entscheidung getroffen und wolle diesen Schritt auf jeden Fall durchziehen. Es wird ausführlich reflektiert, wie viele Energien die Frau in sich hat und sich nur die Frage stellt, wofür sie ihre Energien verwendet. Zur Angstvermeidung, wie die Jahre zuvor, oder ob sie bereit sei Entwicklungsschritte zu gehen und so aktiv ihre Angst bekämpfen könne. Die Frau ist sehr optimistisch, dass sie anstehende Entscheidungen fällen wird und dafür auch die Konsequenzen tragen kann. Die Beraterin teilt der Frau mit, dass sie ihre Wut und Aggression vermisse. Es wird danach gefragt, wo all die Jahre die Wut und der Ärger geblieben sind. Die Frau habe sich über den Mann geärgert, wenn sie nicht raus gehen konnte usw. Die Frau meint darauf hin, dass sie den Ärger runter geschluckt habe, weil ihr Mann sich sonst nur um so mehr aufgeregt habe und sie Angst vor seiner Reaktion hatte. Dem habe sie aus dem Weg gehen wollen. Es wird mit der Frau erörtert, dass sie nur dann verantwortlich für sich selbst sorgen kann, wenn sie ihre eigene Wut spürt und diese zuläßt. D. h. dass es ihr nur in dieser Weise gelingt Grenzen zu setzen, klar sagen können was sie nicht möchte. Ihr wird aufgezeigt, dass sie ihre Aggression nicht positiv genutzt hat, sondern aggressiv zu sich selbst war und sich hat einsperren lassen, anstatt sich der Auseinandersetzung mit ihrem Mann zu stellen. Die Frau führt an, dass es keine Auseinandersetzung mit ihrem Mann gegeben hätte. Es hätte nur das gegolten, was ihr Mann gesagt habe. Wenn sie ihn zu sehr gereizt habe, wäre er ausgerastet. Es hätte für sie nur die Entscheidung gegeben, klein beigeben oder gehen. Der Frau wird erklärt, dass dies der Punkt sei. Es habe keine echte Beziehung, im Sinne von Geben und Nehmen stattgefunden, sondern die Frau sei gebunden an ihre Angst vor dem Alleinsein und der Verantwortung für sich selbst und ihre drei Kinder in der Bindung geblieben.

Die Beraterin erklärt der Frau, dass Frauen wie sie sich oft als Partner einen Gegentyp suchen. Sie habe sich bisher, gebunden durch ihre Angst, nicht getraut ihre eigenen Wünsche zu leben und habe ihre Bedürfnisse denen des Partners untergeordnet. Der Partner kann in einer solchen Konstellation sehr gut seinen eigenen Bedürfnissen nachkommen, lebt nach seinen eigenen Vorstellungen und drängt diese noch der Partnerin auf. Für die Frau blieb in dieser Bindung wenig Platz für eigene Impulse und ihre Selbstwerdung, da die Frau ihre Energien aufs Reagieren gebündelt hatte, zur Erhaltung des Gleichgewichtes zwischen ihrem Mann, ihrem Sohn und ihr. So konnte sie kaum eigene Entscheidungen fällen. Der Frau wird geraten zu üben, eigene Entscheidungen zu treffen und sich auch bewußt unangenehmen Situationen zu stellen (sie hatte bei einem unangenehmen Telefonat ihre Schwester vor geschickt). Die Frau habe so viele Jahre für die Bedürfnisbefriedigung ihres Mannes gelebt, wahrscheinlich wird es neu und ungewohnt sein, wenn sie jetzt auf sich schauen könne und so leben könnte, wie sie möchte. Sie solle sich daran erinnern, wenn sie vielleicht einen netten Mann kennenlerne, dass sie aufpasse nicht seine Bedürfnisse zu leben, sondern ihre. Die Frau habe das Gegenteil 18 Jahre lang trainiert, wahrscheinlich in ihrer Beziehung zu ihrer Mutter noch länger. Jetzt sei sie an der Reihe.




3.4.1 Reflexion der vierten Sitzung

Die Frau hat sich Jahre lang, gefangen in ihren eigenen Ängsten, im Kreis gedreht. Sie hat ihre eigenen Aggressionen gedeckelt, weil es sonst wahrscheinlich viel früher zu einer Entscheidung ihrerseits hätte kommen müssen, beziehungsweise die Situation wahrscheinlich eskaliert wäre, wenn sie auf ihre Bedürfnisse geachtet hätte. Sie hatte wohl noch nicht genug Kraft, sich ihren Ängsten, vor dem (alleine) Leben, der Eigenständigkeit und vollen Verantwortung für sich selbst und ihre drei Kinder zu stellen.

Die nächste Stunde ist schon die letzte Stunde. Es sollen mit der Frau Strategien erarbeitet werden, wie sie zukünftig gegen ihre Ängste angehen kann und ein eigenständiges Leben führen kann, in dem sie ihre Bedürfnisse wahrnimmt und für diese einstehen kann. Dafür braucht sie die Kräfte ihrer Aggressionen. Nur im Wahrnehmen und Leben ihrer Aggressionen kann sie ein befriedigendes Leben und eine befriedigende Sexualität leben.




3.5 Fünfte Sitzung

Physische und psychische Verfassung der Frau:

Sie duckt sich als sie den Raum betritt, wirkt nervös, sieht erholt aus.

Nach der Begrüßung erzählt die Frau, dass ein Treffen mit ihrem Mann anstehe, weil er die Kinder sehen wolle. Sie habe Angst, dass er ihr zu nahe komme, sie umarmen und mit ihr reden möchte. Sie wolle dies alles nicht, sie würde nur zu dem Treffpunkt fahren, damit er die Kinder sehe. Weiterhin habe sie Angst, dass er sie zukünftig verfolge. Sie wisse nicht, was sie machen solle, wenn er heraus zögern würde, die Kinder wieder abzugeben oder wenn er in den gleichen Bus einsteigen würde, in den sie einsteigen müsse.

Die Frau wird nochmals gefragt, ob sie zukünftig ohne ihren Mann leben wolle. Die Frau bejaht dies vehement. Sie habe schon den eigenen Mietvertrag unterschrieben usw. Gemeinsam wird schrittweise jede von der Frau genannte Situation erarbeitet. Es werden Möglichkeiten der Regelungen, Zurückweisungen und Distanzeinhaltungen, die aktiv von der Frau betrieben werden können, aufgezeigt - bis hin zum Benachrichtigen der Polizei. Es wird gemeinsam eine Verhaltenspalette erarbeitet, die der Frau zur Verfügung steht und wovon sie Gebrauch machen kann, wenn es ihr ernst mit der Trennung ist. Die Frau tut sich sehr schwer, mit den ihr zur Verfügung stehenden Verhaltensweisen. Der Frau wird gespiegelt, wie verantwortungsvoll sie im FH mit sich selbst, ihren Kindern und den anderen Frauen und Kindern umgegangen ist. Sie wird ermuntert, sich für sich selbst und ihre Zukunft, sowie die Zukunft ihrer Kinder ihrem Mann gegenüber einzustehen. Überdies soll sie dies aufrecht tun, sie habe keinen Grund sich vor irgend jemanden oder ihrem Mann zu ducken. (Zuvor war die Frau mit ihrem geduckten Gang konfrontiert worden, den sie peinlich berührt zugab.) Es wird gemeinsam erarbeitet, dass die Frau mit jedem Schritt der Anerkennung ihrer eigenen Bedürfnisse und deren Umsetzung gegen den Willen anderer (positive Aggression) ein Stück sie mehr wird und mehr Profil erhält. So könne sie mit geradem Rücken und erhobenen Hauptes jedem und ihrem Mann gegenübertreten. Sie sei nicht dazu da, sich zu ducken und die Bedürfnisse anderer auf sich zu nehmen, sondern sie solle sich strecken und für ihre Bedürfnisse einstehen. Der Frau wird gespiegelt, dass sie bereits enorme Schritte zurück gelegt habe. Die Frau hat sich bereits ihrer Angst vor dem Alleinsein, der Selbständigkeit und der kompletten Verantwortungsübernahme für sich und ihre drei Kinder gestellt. Die Frau stelle sich nun der großen Herausforderung eine eigenständige Persönlichkeit zu werden. Besonders die Treffen mit ihrem Mann könne sie als positive Herausforderung sehen, an der sie lernen und wachsen könne.




3.6 Abschlussreflexion

Die Frau hat von Beginn der Beratung an glaubhaft gemacht, dass sie sich von ihrem Mann trennen will. Dennoch hat sich die Frau sehr schwer damit getan, sich ihrem Mann gegenüber abzugrenzen, indem sie ihn oft in Schutz genommen hat und ihm nicht schaden wollte. Besonders in der letzten Beratung wurde noch einmal deutlich, wie schwer es der Frau fällt, ihm klare Grenzen zu setzen. Es fällt ihr sehr schwer ihm weh zu tun, ihn sich selbst zu überlassen.

Die Beraterin hat in der kritischen Reflexion über diesen Fall bemerkt, dass sie für sich selbst ausgeblendet hatte, dass diese Frau ihren Mann noch liebt und deswegen die Trennung und die Zurückweisung so schwer für sie ist. Es ist typisch für Menschen bei denen das Streben zur Bildung einer Einheit im Vordergrund steht, verbunden mit der Selbsthingabe und der Angst vor der Selbstwerdung, bedingungslos lieben. Es ist anzunehmen, dass es für die Frau selbst schwer ist, sich einzugestehen, dass sie ihren Mann noch liebt. An diesem Punkt hätte weiter angesetzt werden können. Bei der Liebe sollte geschaut werden, was an dem Partner geliebt wird und was Idealisierung ist.

Darüber hinaus empfindet die Beraterin die Frau als sehr gesund, in dem Moment, in dem sie ins FH geht. Die Frau hat eine tragende Entscheidung getroffen, die ihrem Leben zukünftig eine völlig andere Richtung geben kann. In dem Moment, in dem die Frau ins FH geht, übernimmt sie die Verantwortung für sich und ihre drei Kinder. Sie hat ein gemeinsames Leben mit ihrem Mann zurückgelassen und ist bereit ihr eigenes Leben neu zu ordnen. Wahrscheinlich hat die Frau für sich sehr gesund gehandelt, da wahrscheinlich eine frühere Auseinandersetzung oder Entscheidung den größeren Schaden (körperlich sowie seelisch) für sie bedeutet hätte.

In der letzten Stunde hat die Beraterin versucht der Frau Mut zuzusprechen und ihr Ich zu stärken, da sie bald aus dem FH auszieht und sich auf sich selbst verlassen muss.

Die Beratung war durch die äußeren Gegebenheiten geprägt, dass die Frau sich z. Z. der Beratung im Frauenhaus befindet. Die Frau war mit der Angst konfrontiert, dass sie körperliche und/oder seelische Wunden davon trägt, wenn sie sich mit ihrem Mann auseinandersetzt. Die Beraterin hat in der Gegenübertragung die Angst als reale Angst angenommen. In einer anderen Beratungssituation wäre u. U. vermehrt auf den Punkt der unbewußten Partnerwahl eingegangen worden. Wie Riemann erklärt, suchen die Menschen oft unbewußt nach Vervollkommnung ihrer selbst. Auch wenn das alltägliche Zusammenleben in der Paarbeziehung schwer erscheint, würde sich oft der Einzelne unbewußt wieder einen ähnlichen Partner aussuchen. Die Auseinandersetzung mit dem/r PartnerIn ist unabdingbar für die Einzelnen sich selbst und ihre Wünsche, sowie die Wünsche des Partners zu verstehen und nach gemeinsamen Nennern zu schauen.

Die Beratung zeigt, dass der Weg zu den eigenen Ängsten, das Wahrnehmen und Leben der eigenen Aggression der Weg zu und die Anerkennung der eigenen Sexualität ist.




III Schlusswort

Gerade die Verknüpfung von psychoanalytischem Verstehen und dem sexualpädagogischen Ansatz bietet die Möglichkeit den Menschen in seiner Einheit von Körper, Seele und Geist zu sehen. Entwicklungsschritte können im Einklang der drei Ebenen gegangen werden.

Aus der Konzeptentwicklung der psychosozialen Beratung wird klar ersichtlich, dass Sexualpädagogik als Grundlagenschaffende Pädagogik verstanden wird, die den Menschen zur authentischen Ich-Identität führt und so eine lustvolle selbstbestimmte befriedigende Sexualität gelebt werden kann.

Die Konzeptentwicklung psychosozialer Beratung, basierend auf sexualpädagogischer Theorie, spiegelt nur eine Sequenz sexualpädagogischen Arbeitens wieder. Es könnte weiteren Themen nachgegangen werden wie, z. B. "Was für Möglichkeiten stehen Paare zur Verfügung, wenn Langeweile in der Paarbeziehung auftritt? Wie kann Frau/Mann gegen sexuelle Unlust vorgehen? Ausgehend von der Konzeptentwicklung dieser Arbeit wird klar, dass auch bei diesen Themen, der Zugang zur Sexualität durch den Zugang zur eigenen Angst und Aggression geschieht. Es wird ersichtlich, das jeder für sein Handeln selbst die Verantwortung übernehmen, und nicht für das eigene Handeln den/die PartnerIn verantwortlich machen sollte.




IV Literaturverzeichnis

Gesamtkonzept AP Dortmund e.V.

Kernberg, Otto F. (1999)
Liebesbeziehungen. Normalität und Pathologie.
J. G. Cotta`sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

König, Karl (1999)
Kleine psychoanalytische Charakterkunde.
Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen

Riemann, Fritz (2000)
Grundformen der Angst: eine tiefenpsychologische Studie.
Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München

Zum vorigen Beitrag Zur Übersicht Fachforum Zum nächsten Beitrag
zur Startseite
Datenschutz