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Birgit Baumann

Vom Nein zum Mißbrauch zum Ja zur Sexualität

Konzeptionelle Ideen zur Unterstützung der Identitätsbildung in Mädchenwohngruppen


Diese Konzeption ist die Abschlußarbeit von Birgit Baumann im Rahmen der  Zusatzausbildung zur Sexualpädagogin.


„Unserer Meinung nach kann sinnvolle Prävention und diagnostische Arbeit nur unter Einbeziehung einer ganzheitlichen sexualpädagogischen Haltung geschehen. Die eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu spüren und auszudrücken, die eigene Weiblichkeit bzw. Männlichkeit zu erfahren und ihr Raum zur Entfaltung zu geben, ist Ziel sexualpädagogischer Arbeit.“ (AP Dortmund)

„Für die Mädchenarbeit gilt, daß Mädchen nicht als defizitär und / oder Opfer gesellschaftlicher Strukturen gesehen werden, sondern als ernstzunehmende Subjekte, die ihr Leben eigenverantwortlich gestalten wollen und können.“ (Jugendcafé Streethouse 1995, in: S. 45, BZgA 1996)



Gliederung






1. Einleitung

Wenn ich Sexualität nicht nur als Genitalität, sondern  „als ein allgemeines Grundbedürfnis nach Lust, Kontakt, Zärtlichkeit und Nähe“ (S. 18. Marburger 1982) verstehe und als „Grundlage vieler Verhaltensweisen, die gewöhnlich nicht als ‘sexuell’ bezeichnet werden,“ als entscheidenden „Antrieb für interpersonale Kommunikation" und wichtigen „Faktor für personale Beziehungen“ (S. 16, Marburger 1982), auf der anderen Seite aber feststelle, daß Sexualität immer noch ein Tabuthema ist, sexuelle Sprachlosigkeit herrscht, Menschen mittels Sexualität und Emotionalität erniedrigt und entwertet werden, sexueller Mißbrauch zwar ‘in aller Munde’ ist, ihm aber immer noch mit Unsicherheit und Panik begegnet wird, Menschen eher fremd- als selbstbestimmt leben, Kommunikations- und Beziehungsunfähigkeit das Leben bestimmen und Leistung wertvoller ist als der Spaß und die Lust an der Sexualität und damit am Leben, wird für mich die Entwicklung und Etablierung einer ganzheitlichen sexualpädagogischen Haltung in der sozialen Arbeit immer wichtiger.

Ich möchte sexualpädagogisch arbeiten, um Menschen - hier vor allem Mädchen - einen weitgefaßten, lust- und energiefördernden Begriff von Sexualität nahezubringen, ihnen zu Eigenverantwortung und Selbstbestimmung zu verhelfen, sie aus der Passivität, dem Opfer-sein, in die Aktivität, das Leben zu führen; kurz: sie bei der Entwicklung ihrer sexuellen Identität zu unterstützen.
Identität haben heißt für mich, sich seiner Weiblichkeit bzw. Männlichkeit bewußt zu sein und eigenverantwortlich mit sich, seiner Sexualität und anderen umgehen zu können.

Sexualpädagogisch arbeiten heißt daher nicht, irgendeine spezielle Methode anzuwenden, sondern eine ganzheitliche sexualpädagogische Haltung zu entwickeln, in der alle Erfahrungsebenen angesprochen werden, und in der es um Lust, Verantwortung, Beziehung(en), Gefühle, Information, Gespräch, Auseinandersetzung, Begegnung und Einfühlung in Personen und Gruppen geht.
Dabei ist der Weg das Ziel! Das heißt, wichtig ist nicht die Erreichung eines bestimmten Wissensstandes, sondern das Gespräch, das Reden über Sexualität und Gefühle. Das schafft Auseinandersetzung, Beziehung, Konfrontation, Nähe und führt so zur  Wahrnehmungserweiterung und zur sexuellen Identität.

Sexualität - Was ist das eigentlich?
Für viele Menschen ist Sexualität dasselbe wie bzw. ausschließlich Geschlechtsverkehr. Ich finde dies eine ziemlich begrenzte und einseitige Sichtweise. Für mich ist dies nur ein Teil von dem, was Sexualität ausmacht.

Ich sehe Sexualität eher wie Helga Marburger, Uwe Sielert und die ‘Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung’, die schreiben:
„Ich verstehe Sexualität als eine von Geburt an wirksame Lebensenergie, die körperlich-biologische, sozial-kommunikative und geistig-seelische Bestrebungen umfaßt, deren aktuelle Formung und Ausprägung nicht biologische determiniert sind, sondern das Ergebnis von Lern- und Sozialisationsprozessen und deren ihnen zugrundeliegende Werte und Normen im Rahmen je bestimmter gesellschaftlich-politischer Bedingungen.“ (S. 15, Marburger 1982)

„Sie bedient sich des Mediums ‘Körper’ und hat vielfältige Ausdrucksformen-als Zärtlichkeit, Leidenschaft, Hingabe, Sehnsucht und Begierde oder auch als Aggression.“ (S. 14, Sielert u.a. 1993)

Sexualität ist „(...) ein existenzielles Grundbedürfnis des Menschen und ein zentraler Bestandteil seiner Identität und Persönlichkeitsentwicklung. Sexualität umfaßt sowohl biologische als auch psycho-soziale und emotionale Tatbestände und Vorgänge. Die Ausgestaltung von Sexualität deckt ein breites Spektrum von positiven bis zu negativen Aspekten ab, von Zärtlichkeit, Geborgenheit, Lustempfinden, Befriedigung, bis hin zur Gewaltanwendung und Machtausübung“. (S. 10, BZgA 1993 in: BZgA 1996)

Biologisch festgelegt ist einzig das Geschlecht des Menschen. Seine Geschlechtsidentität entwickelt sich dagegen erst im Laufe der Zeit und ist von vielen Faktoren abhängig, z.B. Wünsche und Erwartungen der Eltern, Sozialisation, Rollenverhalten, Umwelt, Erfahrungen.
Ich sehe Sexualität ganzheitlich. Sie hat zu tun mit Körper, Körperwahrnehmung, mit Gefühlen; mit Liebe und Partnerschaft, mit Gewähren und Empfangen, mit Lust und Befriedigung, mit Fruchtbarkeit, Zärtlichkeit und Geborgenheit; mit Leben.
Sexualität ist für mich Beziehung-Beziehung zu sich selbst und zu anderen. Diesen Aspekt finde ich wichtig, weil er Kontakt bedeutet, Lust, Konfrontation, Verantwortung und Selbstbestimmung:

Sexualität hat aber leider auch schreckliche und unschöne Seiten, wenn

  • Grenzen überschritten werden,
  • Menschen über die Methode der Sexualität entwertet, erniedrigt, gedemütigt werden
  • Menschen an Körper und Seele Gewalt angetan wird,
  • Sexualität vermarktet und damit entwertet wird.
Dann macht Sexualität Angst und verhindert Beziehung, weil diese ausgenutzt werden.

Die Auseinandersetzung mit allen Aspekten eigener Sexualität soll dazu führen, sich und seinen Körper kennenzulernen, zu akzeptieren und wertzuschätzen und somit zur Entwicklung von sexueller Identität. Ich kann meine Weiblichkeit, mein Frau-sein zeigen und eigenverantwortlich und selbstbestimmt leben.

Mädchen soll dabei geholfen werden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, Fähigkeiten und Stärken zu entdecken und zu fördern, durch Gewalt, Mißbrauch und Vernachlässigung erlittene Verletzungen zu erkennen und zu bearbeiten, von der Passivität, dem Schwach-Fühlen zur Aktivität, dem Stark-Fühlen zu gelangen, damit sie eigenverantwortlich mit sich, ihrer Sexualität und anderen umgehen können.
Das erfordert viel Kraft, weil Gewohntes aufgegeben werden und Neues entdeckt und gelernt werden muß, macht aber Identität aus, bringt Lust, gelungene Sexualität und Leben.

Im Sinne einer ganzheitlichen sexualpädagogischen Haltung möchte ich ein Konzept entwickeln für die Arbeit von Sozial- und Sexualpädagoginnen in Mädchenwohngruppen.
Dieses Konzept basiert in den Kapiteln 2 - 4 und 6 in Teilen auf dem Konzeptionsentwurf der Wohngruppe Hirtenstraße und deren Überarbeitung.




2. Warum Arbeit mit Mädchen?

§ 9.3 des neuen KJHG fordert die Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen, den Abbau von Benachteiligungen und die Förderung von Gleichberechtigung.
Dennoch werden Mädchen nach wie vor in fast allen gesellschaftlichen, familiären und persönlichen Bereichen benachteiligt.


Noch immer haben Männer in unserer patriarchalen Gesellschaft im öffentlichen Bereich eine Vormachtstellung inne und besetzen auch in der Wirtschaft die hochbezahlten Jobs.
Betrachtet man die Arbeits- und Ausbildungssituation von Mädchen und Frauen, so fällt auf, daß diese in stärkerem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Trotz besserer Schulabschlüsse in den unteren und mittleren Bereichen, sind die Aussichten auf eine qualifizierte Berufsausbildung gering.
Mädchen sind immer noch auf wenige Ausbildungsberufe konzentriert, welche schlecht bezahlt werden und wenig Weiterbildungs- und Aufstiegschancen bieten. Wollen sich Mädchen in sogenannten Männerberufen ausbilden lassen, befinden sie sich dort in der Minderheit, sind Pöbeleien, Anmache und Beleidigungen ausgesetzt.
Aufgrund der ökonomischen Verhältnisse gelingt es den Mädchen oft nicht, autonom zu leben.
Vielfach müssen sie deshalb wieder auf die Existenzsicherung über einen Mann zurückgreifen.
Abhängigkeit und Fremdbestimmung, denen Mädchen-wie unten beschrieben-häufig in ihren Familien ausgesetzt sind, werden fortgeführt.

Viele Mädchen, besonders in der sogenannten ‘Unterschicht’, kommen aus Familien, in denen rigide Strukturen herrschen, sich die ‘klassische’ Rollenverteilung findet und ein starkes Gefälle zwischen den Geschlechtern und Generationen.
An die Mädchen werden häufig hohe Erwartungen gestellt, besonders im Hinblick auf die Versorgung ihrer Familie. Sie selbst dagegen werden emotional oft nicht versorgt, fühlen sich mit ihren Problemen und Wünschen allein gelassen. Sie müssen Aufgaben übernehmen, denen sie vom Alter und ihrer ‘Position’ her nicht gewachsen sind und unterliegen so ständiger Überforderung.

In ihrer Sozialisation geht es nach wie vor immer noch zu wenig um Erziehung zu Autonomie und Eigenverantwortung, sondern eher um eine Gewöhnung an Benachteiligungen. Die Mädchen sollen sich an ihrer Familie und dem jeweiligen Frauenbild orientieren. Ihr Weggehen mit Freundinnen und Freunden, ihre Freizeitgestaltung, ihr Umgang, ihre Kleidung u.ä. unterliegen starken Beschränkungen. Sie werden immer noch weniger gesehen und beachtet, ihre Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen nicht registriert. Sie halten sich deshalb für unwichtig und wertlos.
Die Entwicklung von Eigeninitiative und Eigenaktivität wird demnach weder gefördert noch zugelassen, ihr Selbstwert immer wieder verletzt.

Eine Zuspitzung dieser Beschränkungen und Verletzungen findet sich im Bereich von Sexualität.
„In der körperlichen wie sexuellen Erziehung und Sozialisation erfahren Mädchen ihren Körper weder als Quelle der Lust noch als Quelle der Stärke. Im Gegenteil lernen sie, daß es eine eigene Mädchensexualität nicht gibt, sondern Sexualität nur in der Bezogenheit auf einen Mann existiert. Sie können der körperlichen Weiblichkeit nicht selbst Lust verleihen, sie nicht lustvoll besetzen und zur Quelle der eigenen Befriedigung machen.“ (S. 2, Menke-Hille 1996 )
Um sie schon früh vor sogenannten ‘Gefährdungen’ zu bewahren, werden sie geschlechtslos erzogen, findet sexuelle Erziehung, Erziehung zur körperlichen Selbstbestimmung nicht statt.
Wollen die Mädchen in der Pubertät mit ihrer Sexualität experimentieren, erwarten sie zumeist massive Sanktionen. Sexualität wird dann gleichgesetzt mit Aids, Schwangerschaft, sexueller Verwahrlosung, Vergewaltigung; sie selbst werden als Flittchen beschimpft. Mädchen haben so kaum die Möglichkeit, die lustvolle und energiespendende Seite von



Sexualität zu erfahren und zu leben. Ihr Alltag ist vielmehr „durch den Widerspruch zwischen einer bejahenden, lustvollen und selbstbestimmten Sexualität und struktureller oder direkter Gewalt (z. B. Vermarktung des weiblichen Körpers, sexueller Mißbrauch, Vergewaltigung ) geprägt“. (S. 3, Pro Familia 1996)

Pädagoginnen sollen mit Mädchen arbeiten, um sie bei der Entwicklung einer bejahenden, lustvollen und selbstbestimmten Sexualität zu unterstützen, die ein gelungenes Verhältnis zu sich, ihrem Körper und ihrem Frau-sein beinhaltet und somit weibliche Identität bedeutet.




3. Die besondere Situation von Mädchen in Heimen

Die Erfahrung hat gezeigt, daß nahezu alle Mädchen, die in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe aufgenommen werden, in ihren Familien oder dem nahen Umfeld, sexuellen Mißbrauch erlitten haben-wobei der oft damit einhergehende, aber auch separat stattfindende emotionale und körperliche Mißbrauch in seinem Erleben und seinen Auswirkungen ähnlich ist.
Die Mädchen werden in ihrer Person entwertet; einzig die Bedürfnisse des / der Mißbraucher/in zählen. Die Mädchen lehnen sich und ihren Körper ab, die Entwicklung einer gelungenen Identität und Sexualität wird verwehrt.
Die Mädchen als Opfer des Mißbrauchs müssen ihre Familie verlassen, der / die MißbraucherIn bleibt. Es half ihnen niemand und sie werden auch nach Offenmachung des Mißbrauchs in der Familie oft als Lügnerin hingestellt. Jetzt müssen sie sich in einer neuen Umgebung und Lebenswelt zurechtfinden.

Die meisten Mädchen leiden als Folge von Gewalt- und Mißbrauchssituationen unter Traumatisierungen und Identitätsstörungen. „Die körperliche, seelische und geistige Integrität wird nachhaltig verletzt und / oder zerstört. Die Mädchen... entwickeln Überlebensstrategien, um mit den Folgen dieser Verletzungen und Zerstörung ‘leben’ zu können. Sie entwickeln Symptome wie Trebegehen, Deliquenz, Depressivität, Suizidalität, Eßstörungen, Drogenabhängigkeit, Autoaggressionen oder psychosomatische Störungen.“ (S. 13, Ev. Jugendhilfe)
Kommen die Mädchen nach Ausbruch aus dieser Mißbrauchssituation in Einrichtungen der Jugendhilfe, kommen sie mit Gefühlen von Minderwertigkeit, Isolation, Vereinsamung, Schuld, Scham usw. Die meisten Mädchen fühlen sich für den Mißbrauch verantwortlich, sehen dessen Ursache in ihrer Person, ihrem Verhalten. Oftmals haben sie keine Lebensperspektive mehr, können sie ihren Gefühlen nicht mehr trauen bzw. kennen diese nicht mehr.

Ihre tiefgreifenden Scham- und Schuldgefühle dehnen sie häufig auch auf andere Bereiche aus. Sie spüren ihren Wert nicht, trauen sich nichts zu, glauben, nicht geliebt werden zu können.
Sie sind Opfer des Mißbrauchs, machen sich vielfach aber immer wieder selbst zum Opfer. Sie fühlen sich schlecht, schmutzig, wertlos und verletzen sich immer wieder selbst, indem sie sich z.B. selbst verurteilen. Sie bestätigen sich ihre ‘Andersartigkeit, Wertlosigkeit, Widerwertigkeit’ durch ihr Verhalten und die darauf folgende Reaktion der anderen.

Die Mädchen haben eine niedrige Frustrationstoleranz und auffällige ‘Konfliktlösungsstrategien’, was besonders im Bereich von Schule und Ausbildung immer wieder zu Schwierigkeiten führt. Aufgrund ihrer besonderen Situation ist es ihnen manchmal


nicht möglich, einen Schul- oder Berufsalltag einzugehen bzw. durchzuhalten. Die Angst zu versagen ist groß und führt gerade dadurch oft dazu.

„Fremdbestimmt (und entwertet) zu sein und den eigenen Empfindungen als Orientierung nicht trauen zu können, hat in vielerlei Hinsicht schwerwiegende Folgen, gerade auch für die sexuelle Erlebnisfähigkeit und für die eigene Körperwahrnehmung. Es führt zu psychischer Abhängigkeit und nicht zuletzt dazu, das Frau-Werden zu verweigern.“ (S. 12, Projekt für Mädchen und junge Frauen 1995)




4. Förderung der Identitätsbildung in Mädchenwohngruppen

Wie beschrieben, erleben sich die Mädchen, die in Mädchenwohngruppen aufgenommen werden, oft als ohnmächtig, hilflos und fremdbestimmt. Vielfach haben sie keinen Zugang zu ihren Gefühlen, sind sie aggressiv oder depressiv. Sie spüren ihren Wert nicht und haben keine Lebensperspektive. Sie sind Opfer, dehnen diese ‘Opferrolle’ aber auch auf andere Bereiche aus.
Sie wurden über die Methode der Sexualität und der Emotionalität entwertet und verbinden
diese eher mit Gewalt, Angst, Grenzverletzungen, Abhängigkeit, als mit Lust, Energie, Selbstbestimmung, Weiblichkeit und Identität.

Die Arbeit mit einer ganzheitlichen sexualpädagogischen Haltung ist ein Weg, die Mädchen bei der Entwicklung einer weiblichen, sexuellen Identität zu unterstützen und zu begleiten.
Die Pädagoginnen sollen ihnen die lustvolle und energiespendende Seite von Sexualität nahebringen, sollen sie unterstützen, damit sie ihre Stärken entdecken und nutzen, ihren Körper positiv wahrnehmen und akzeptieren und ihren Wert erkennen, damit sie selbstbestimmt und eigenverantwortlich mit sich und ihrer Sexualität umgehen können.
Selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben bedeutet, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, selbstbewußt zu entscheiden und zu handeln und für die Konsequenzen verantwortlich zu sein. Letztlich heißt dies, erwachsen zu werden.

Sexualpädagogik ist (Grundlage von) Beziehungsarbeit. Beziehung bedeutet Konfrontation und Nähe, schließt Arbeit auf Angstbasis aus und hat mit Vertrauen, Verstehen und Wahrnehmung zu tun, mit Respekt und Grenzen.
In Beziehung zu sich und anderen, durch Kontakt und Auseinandersetzung können sich Jugendliche zu eigenständigen Menschen entwickeln. Da sich Menschen in sozialen Beziehungen normalerweise nicht unabhängig voneinander verhalten, muß die Pädagogin sich die Dynamik der Gruppe zunutze machen und die Mädchen voneinander und miteinander lernen lassen. Das heißt, sie muß ein gutes Gespür für die Mädchen und die Atmosphäre in der Gruppe haben, um lähmende und aktivierende Faktoren, Hierarchien und Platzverteilungen, Abläufe, Irritationen, Kränkungen, Ängste, Akteure, Zuschauer und heimliche Drahtzieher erkennen und benennen zu können.

Die Pädagogin soll den Mädchen spielerisch, aber nicht in einer ‘verkrampften’ Locker- bzw. Offenheit gegenübertreten. Sie muß beachten, daß Intimität und somit das Reden über Sexualität mit Scham, Ängsten, Unsicherheit u.ä. verbunden ist. Diese zeigen Grenzen auf und sind wichtig. Deshalb dürfen sie nicht überspielt werden, sondern müssen ernstgenommen, zugestanden, besprochen und überprüft werden. Echtheit, Ehrlichkeit und Wahrung der Grenzen tragen dazu bei, daß sich die Mädchen aufgehoben fühlen können.



Es gilt ein Klima zu schaffen, in dem die Mädchen Schutz erfahren, Geborgenheit erleben und Vertrauen fassen können. Dies bedeutet auch, Raum zu lassen, der frei ist von Beobachtung, Leistungs- und Konkurrenzdruck und autoritären Sanktionen-anders als sie es von Zuhause kennen. Das bedeutet vor allem auch, sie individuell dort abzuholen, wo sie stehen und ihnen Wertschätzung und Akzeptanz zu vermitteln. Überforderungen sind auf jeden Fall zu vermeiden.

Um die in der Familie erlebte Isolation zu beenden, müssen die Mädchen beim Aufbau und der Gestaltung von freundschaftlichen Beziehungen und von Freizeit unterstützt werden.
Hier kann es unter Umständen hilfreich sein, Rollenspiele zu spielen, in denen die Mädchen Kontaktaufnahme, Umgang mit Schwierigkeiten u.ä. spielerisch üben können. Oder auch Gespräche darüber: Was erwarte / wünsche ich von meiner Freundin? Was bin ich bereit zu tun? Weiß ich überhaupt schon, was ich will, oder muß ich es erst herausfinden?
Das gleiche gilt in Bezug auf Intimbeziehungen, in denen es den Mädchen meist noch viel schwerer fällt, ihr Wollen und Tun nicht von ihrem Freund abhängig zu machen und selbstbestimmt zu leben.
Da den Mädchen eine eigene Freizeitgestaltung zumeist verwehrt worden ist, müssen sie oft erst herausfinden, was ihnen Spaß macht. Hier müssen Angebote innerhalb und außerhalb der Wohngruppe bereitgestellt werden-mädchentypische, aber auch andere, um Gegenerfahrungen sammeln zu können (Kochen, Nähen, Schminken, gemeinsames Einkaufen, Theater, Kino, Fotografieren, Holz- und Metallarbeiten u.ä.).

Die Pädagogin soll die Mädchen dabei unterstützen, ihre sexuelle Sprachlosigkeit zu überwinden, sowohl in Bezug auf die Tabuisierung von Sexualität, als auch in Bezug auf erlebten Mißbrauch. Da, wo über Sexualität geredet werden kann, kann nämlich auch leichter über Mißbrauch geredet werden. Das bedeutet erst mal, eine gemeinsame Sprache zu finden, aber auch deutlich zu machen, daß sie-je nach Situation und Erleben-unterschiedliche Ausdrucksformen haben kann.
Dabei ist Kommunikation keine Frage des Intellekts, sondern eine Frage von Beziehung und Wertschätzung. Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um verschiedene Sichtweisen.
Dabei ist es wichtig, wertfrei zu bleiben und nicht zu moralisieren.

Die Auseinandersetzung mit Sexualität soll dazu führen, daß die Mädchen sensibler und offener mit sich werden. Es geht darum, sie in Kontakt mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Erfahrungen zu bringen, damit sie diese erkennen, formulieren und leben können. Sie können eigene Vorstellungen über Sexualität entwickeln, andere Lebens- und Liebesformen eher tolerieren lernen, Unterschiede im Wünschen und Verlangen, aber auch in den Problemen von Mädchen und Jungen entdecken.

Oftmals gilt auch heute noch das Streben nach Lust als Sünde; sexuelle Wünsche und Regungen rufen-vor allem bei Mädchen - Zweifel, Schuldgefühle und schlechtes Gewissen hervor. Die Mädchen wissen oft nicht mehr, was gut für sie ist, wie sie Ihr Leben leben und gestalten wollen, da sie ihre Gefühle und Wünsche bzgl. Sexualität zwar oftmals spüren, sie aber nicht leben dürfen bzw. verurteilen müssen.
Sie lehnen ihren Körper ab, fühlen sich entwertet und lassen sich durch andere bestimmen.
Oftmals erscheint ihnen das auch erst mal einfacher, müssen sie sich doch nicht entscheiden und verantworten. Die Unterdrückung ihrer Gefühle und das ‘Gefallen-wollen’ machen jedoch klein, kosten viel Energie und verhindern Beziehung.


Hier gilt es, die Mädchen zu unterstützen, eine eigene Wertposition zu entwickeln, Werte und Normen zu überprüfen und die zur Selbstbestimmung notwendigen Informationen zu vermitteln.

Die Entwicklung einer eigenen Wertposition kann dadurch geschehen, indem die Pädagogin die Mädchen zur Auseinandersetzung mit Werten und Normen anregt-individuellen wie gesellschaftlichen.
Die Aneignung von Werten und Normen ist ein lebenslanger Prozeß, der erziehungs-, erfahrungs- und gesellschaftsabhängig ist. Werte und Normen können Orientierung bieten, aber auch einengen. Deshalb ist es wichtig, ihre Entstehung zu betrachten und individuell zu überprüfen, welche Werte und Normen beibehalten und welche verändert werden wollen. Diese Überprüfung kann Angst machen, Gefühle wie Trauer, Wut, aber auch Befreiung auslösen und muß behutsam begleitet werden. Dabei ist es wichtig, die Mädchen nicht auf bestimmte Ziele, Werte und Normen festzulegen, sondern Hilfestellung zu bieten, um eigene Liebes- und Glücksvorstellungen selbstbestimmt zu realisieren, Unsicherheiten, Ängste und Schuldgefühle in Bezug auf die eigene Sexualität und die der anderen abzubauen.

Dazu gehört es auch, Aufklärung zu leisten. Die meisten Jugendlichen halten sich zwar für sexuell aufgeklärt, haben aber dennoch große Lücken und fühlen sich unsicher. Vieles ist tabuisiert und dadurch mystisch. Das macht Angst. Aufklärung soll zur Beschäftigung mit dem eigenen Körper anregen und helfen, körperliche Vorgänge zu verstehen und dadurch eher zu akzeptieren.
Aufgeklärt werden sollte hier nicht in Form von Wissensvermittlung, sondern im Reden über Probleme, Ängste, Unsicherheiten. Dabei müssen die Mädchen u.a. die Möglichkeit haben zu erzählen, was sie an ihrem Körper mögen bzw. was sie ablehnen, wo sie Schwierigkeiten haben, ‘Gelerntes’ in den Alltag zu übertragen. Akzeptanz kann sich einstellen und Körperlichkeit entwickelt werden.
Andere Möglichkeiten der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Körper, Aussehen u.ä. sind beispielsweise Körperarbeit in Form von Massage, Tanzen, Toben, Verkleiden, Schminken, Schmuck basteln, Kleidung nähen u.v.m.

Zur Aufklärung gehört auch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und mit dem Gebrauch von ‘Sexualität und Sprache’, z.B. in der Werbung. Das läßt Benachteiligungen und die Abwertung der Frau in der Gesellschaft eher erkennen und hilft, ihr entgegenzuwirken.

Die Überprüfung von Werten und Normen soll dazu führen, daß Mädchen den Wert von Lust erkennen und entdecken, daß es auch ihnen erlaubt ist, lustvoll zu leben und daß Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Geschlechtlichkeit, Gefühle, gelungene Sexualität, Beziehungsfähigkeit, Wissen um Stärken und Schwächen, Wünsche und Bedürfnisse die eigene Identität an sich bedeuten. Das ist wichtig, da Lust an der Sexualität, und damit am Leben, Leben selbst ausmacht.

Sexualität positiv und lustvoll zu erleben und weibliche, sexuelle Identität zu entwickeln, fällt da besonders schwer, wo Sexualität von ihrer gewaltsamen und schrecklichen Seite erlebt wurde, was bei den meisten Mädchen in Heimen oder Wohngruppen der Fall ist.
Wenn Sexualität gewaltsam erlebt wird, hat das immer mit Grenzüberschreitung, Demütigung zu tun, werden Menschen mittels Sexualität in ihrer Person und Identität entwertet und Sexualität an sich auch. Die Mädchen sind Opfer der Willkür der TäterInnen.

Um die Mädchen aus ihrer ‘Opferrolle’ heraus zu führen, ist es wichtig, sie erst mal so anzunehmen, wie sie sind. Das heißt vor allem, sie als Mädchen zu sehen, die Mißbrauch erlitten haben, sie aber nicht darauf festzulegen. Der Mißbrauch darf nicht allein gesehen werden, sondern in seiner Beziehungsgeschichte, mit allen familiendynamischen Facetten. Signale, Widerstandsformen und Überlebensstrategien müssen als solche wahrgenommen und dürfen nicht mißdeutet werden. Es gilt, den Mädchen die Möglichkeit zu geben, das Erlittene anzusprechen. Den Mädchen ist das falsche Verantwortungsgefühl zu nehmen. Nicht sie sind für den Mißbrauch verantwortlich, sondern ganz allein der / die TäterIn. Eine realistische Betrachtungsweise kann dann auch Gefühle wie Wut, Trauer, Enttäuschung eher zulassen. Wichtig ist es hierbei, ihnen zu vermitteln, daß diese Gefühle o.k. und berechtigt sind. Dann ist auch wieder Raum da für Gefühle wie Freude, Lust, Freiheit, Geborgenheit.

Mit den Mädchen ist Trauerarbeit zu leisten im Hinblick auf das ‘Wunschbild’ Familie und eine nicht gelebte Kindheit. Gewünschte Kontakte zu Familienmitgliedern müssen oft neu aufgenommen, begleitet und bearbeitet werden.

Da Mißbrauch immer mit Grenzverletzung zu tun hat, ist das Aufzeigen und Wahren von Grenzen besonders wichtig. Ihr Recht auf Selbstbestimmung und körperliche und seelische Unversehrtheit ist zu verdeutlichen, ergibt sich aber aus dem Konzept ‘Vom Nein zum Ja’.

Die Pädagogin soll die Mädchen dabei unterstützen, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und zu formulieren, sie aber auch mit ihrem Verhalten, ihren Ängsten und Vermeidungen konfrontieren. Dabei geht es u.a. darum, ihnen aufzuzeigen, daß sie sich immer wieder selbst zum Opfer machen, wenn sie andere über sich bestimmen lassen, Neues vermeiden, ihr Leben nicht selbst in die Hand nehmen und eigenverantwortlich mit sich und ihrer Sexualität umgehen. Die Mädchen sollen lernen, Initiative zu ergreifen, ihre Sexualität und ihr Leben, ihr Glück oder Unglück nicht von anderen abhängig zu machen.
Hier muß immer wieder mit den Mädchen besprochen und überprüft werden, was sie wollen, wie sie es angehen und wie sie es verwirklichen können.

Es gilt, einen Prozeß zu begleiten: Vom Nein zum Mißbrauch, zum Ja zur Sexualität!

Mädchen mit sexuellen Gewalterfahrungen, aber auch viele andere, setzen Sexualität oft mit Schmutz, Grenzverletzung, Demütigung, Schuld u.ä. gleich. Sie unterdrücken oder wissen nicht von ihren sexuellen Bedürfnissen, weil sie Sexualität als entwertend und erniedrigend erlebt haben bzw. sie um die gesellschaftlichen Erwartungen wissen, nach denen Sexualität Mädchen häufig nur unter dem Aspekt von Ehe und Fruchtbarkeit zugestanden wird, aber nicht unter dem von Lust.

Hier sollen sie ermutigt werden, Bedürfnisse und Wünsche zu entdecken und zu formulieren, neue Erfahrungen zu sammeln, Sexualität als lust- und energiespendend zu erleben, Sexualität nicht mit Mißbrauch gleichzusetzen. Denn wenn die Mädchen entdecken und wissen, was sie wollen, dann wissen sie auch, was sie nicht oder nicht mehr wollen. Sie können sich selbst akzeptieren und werden frei, da sie nicht mehr auf die Anerkennung durch andere angewiesen sind. Sie können selbstbestimmt und über ihre Gefühle geleitet leben.

Weg von den Ängsten, der Vermeidung von Sexualität und Beziehung, hin zur gelungenen Sexualität, zu Lust und Leben. Ja statt Nein führt zum Wahren von Grenzen, zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, zu weiblicher, sexueller Identität und ist beste Prävention.




5. Haltung der Einrichtung zur Sexualität

Sexualität / Geschlechtsverkehr ist laut Jugendschutzgesetz ab dem Alter von 16 Jahren erlaubt. Aus Angst vor einer möglichen Schwangerschaft, dem Ansehen in und dem Druck aus der Öffentlichkeit, aber vor allem auch aufgrund von starker Unsicherheit auf seiten der MitarbeiterInnen, wird Sexualität in all seinen Facetten-hier meine ich nicht nur Geschlechtsverkehr-in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe selten zugelassen und thematisiert, sondern im Gegenteil vielfach sanktioniert und ‘totgeschwiegen’.

Ausgehend von den Werten und Normen kirchlich-diakonischer Einrichtungen bzgl. Sexualität-wobei der Umgang mit Sexualität in Einrichtungen mit anderem Wertehintergrund nicht unbedingt anders ist -, ist dieses vielleicht auch erst mal verständlich. Hier wird Sexualität oft eingeschränkt gesehen und an bestimmte Bedingungen gekoppelt, z.B. ‘Kein Sex vor der Ehe’, Sex = Mittel zum Zweck (Fruchtbarkeit).

Angesichts dieses Werte- und Normenhintergrundes, der oftmals zwar nicht direkt ausgesprochen, von vielen MitarbeiterInnen und der Heimleitung aber vertreten wird, ist es nicht verwunderlich, daß Sexualität im weitesten Sinnen im Alltag ausgespart wird und Ängste und Unsicherheiten auf allen Ebenen auslöst.
Sexualität wird oftmals nur dann thematisiert, wenn ein Mädchen einen Freund hat und die Pille nehmen soll. Auch dann wird eher vor Sexualität bzw. Geschlechtsverkehr gewarnt, indem Sexualität mit Aids, sexueller Verwahrlosung, Schwangerschaft, Vergewaltigung gleichgesetzt wird. Der Wert von Sexualität wird nicht erkannt, die lustvolle und energiespendende Seite ausgeklammert.

Der Zusammenhang zwischen steigender Gewaltbereitschaft und zerstörerischer Aggression auf der einen Seite und dem Nicht-Raum-Geben von Sexualität im weitesten Sinne auf der anderen, ist meiner Meinung nach nicht bekannt. Wo Sexualität und damit Gefühl nicht gelebt werden dürfen, fühlen sich die Kinder und Jugendlichen in ihrer Person entwertet. Diese unterdrückten Gefühle und sexuellen Regungen führen zu Aggressionen und Gewalt.

Statt dessen werden Kinder und Jugendliche darüber definiert, wie sie sich in das Gruppengeschehen einfügen, sie in Schule bzw. Ausbildung zurechtkommen. Die Kinder und Jugendlichen müssen funktionieren, die BetreuerInnen / die Arbeit werden für gut befunden, wenn der ‘Laden läuft’. Wenn auch sicherlich zum Teil richtig, findet auch hier wieder Erziehung zur Anpassung statt. Das Kind / der Jugendliche ist ‘lieb’, funktioniert, um Anerkennung oder Vergünstigungen zu bekommen.
Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und damit Entwicklung von Identität werden selten gefördert, zumal die Kinder und Jugendlichen mit ihrem Handeln oftmals nicht in der Form konfrontiert werden, daß sie sich verantworten müssen.

Daß Identitätsentwicklung im wesentlichen von gelungener Sexualität und damit von der Auseinandersetzung Kinder und Jugendlicher mit dieser abhängt, ist den meisten leider nicht bekannt.
Hier muß die Pädagogin in Auseinandersetzung gehen und die Notwendigkeit einer gelebten Sexualität-im weitesten Sinne - in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe, auch in Anbetracht von kirchlich-diakonischen Werten und Normen, vertreten. Denn ohne die Auseinandersetzung mit sich und seiner Sexualität kann Identitätsentwicklung nicht stattfinden; weder bei den MitarbeiterInnen noch bei den Kindern und Jugendlichen.




6. Äußere und innere Rahmenbedingungen

Um die Mädchen bei der Entwicklung ihrer Identität begleiten und sexualpädagogisch arbeiten zu können, sind folgende Rahmenbedingungen nötig:

  • Lage, Ausstattung und Belegung der WG
  • Mitarbeiterinnen
  • Berufliche und schulische Integration

6.1. Lage, Ausstattung und Belegung der WG

  • Aus der Überschrift dieser Konzeption ergibt sich schon, daß zur Unterbringung der WG ein separates Wohnhaus angemietet werden muß. Die Schutzfunktion der Wohngruppe kann hier eher gewährleistet sein als in der geschlechtsgemischten Kerneinrichtung. Außerdem zeigt die Erfahrung, daß die Mädchen ein Wohnhaus eher als ihr Zuhause akzeptieren können als ein Haupthaus mit mehreren Gruppen.
  • Das Wohnhaus sollte verkehrsgünstig liegen, so daß Schulen und Ausbildungsstellen, aber auch Freizeitmöglichkeiten gut zu erreichen sind.
  • Die Wohngruppe sollte über Einzel- und Doppelzimmer verfügen, über Küche, Wohn- und Eßzimmer, sanitäre Anlagen, Kellerräume und Büro mit Schlafmöglichkeit für die Mitarbeiterinnen. Wichtig ist eine helle und übersichtliche Aufteilung.
  • Sinnvoll ist eine Belegung mit 6 Mädchen, da dann eine individuelle Betreuung möglich ist und die einzelnen Mädchen mehr an Zuwendung und Aufmerksamkeit erhalten können.
  • Wichtig ist, daß die Mitarbeiterinnen bei Entscheidungen über Aufnahmen und Entlassungen, unter Berücksichtigung der Belegung der Gesamteinrichtung, mitbestimmen können.
  • Überlegungen dazu, die WG altersgemischt zu belegen, sind:
    • Durch das hohe Aufnahmealter in Jugendwohngruppen erleben die Mädchen relativ viele Abschiede in kurzer Zeit und müssen sich immer wieder an neue Mädchen gewöhnen.
    • In der Pubertät, die durch Ablösung gekennzeichnet ist, fällt es den Mädchen schwer, sich für 1-2 Jahre neu einzulassen.
    • Die Mädchen haben ‘genug an sich’ und müssen sich dadurch nicht unbedingt nach außen orientieren.
    • Ständiges Beisammensein mit Gleichaltrigen (Peergroup) ist anstrengend. Es findet permanente Konkurrenz statt.
    • Die Jugendlichen dürfen voreinander nicht kindlich oder klein sein, was sie aber eigentlich nachleben müßten, sondern cool und erwachsen, da sie sonst untereinander nicht anerkannt werden.

6.2. Mitarbeiterinnen

  • Die Forderung, zur Betreuung der Mädchen ausschließlich Pädagoginnen einzustellen, ergibt sich aus der Notwendigkeit, einen beschützenden Lebensort mittels einer geschlechtshomogenen Wohngruppe zu schaffen. Außerdem akzeptieren Mädchen diese eher als Ansprech- und Vertrauenspersonen und müssen nicht auf sexualisierte Verhaltensweisen zurückgreifen, um Wünsche und Bedürfnisse erfüllt zu bekommen.
  • Über transparente Beziehungen und einen partnerschaftlich, integrativen Erziehungsstil sollen die Mädchen in sämtliche Entscheidungen, die ihre Person betreffen, einbezogen werden.
  • Die Pädagoginnen sollten über Fachwissen und Erfahrung bzgl. der Problematik von Gewalterfahrungen, über Einsicht in weibliche Benachteiligungen und Diskriminierungen, über Milieukenntnisse und vor allem über Fähigkeiten zur Beziehungsarbeit verfügen.
  • Wichtig ist die Arbeit mit einem Netzwerk aus Therapeutinnen, Beraterinnen, Juristinnen, Selbsthilfegruppen u.ä., auf die man im Bedarfsfall zurückgreifen kann.
  • Eine weitere berufliche Qualifizierung in Form von Fortbildungen und Supervision sollte für Mitarbeiterinnen und Heimleitung verpflichtend sein.

6.3. Schulische und berufliche Integration

Wie bereits in Kapitel 3. beschrieben, fällt es den Mädchen aufgrund ihrer Situation oft schwer, den Schul- und Berufsalltag einzugehen bzw. durchzuhalten.
Deshalb ist es wichtig, alternative Angebote zu machen, damit sich die Mädchen möglichst ohne Druck orientieren können. Dazu zählen u.a.:

  • Niederschwellige Angebote durch die WG in Form von Stunden- oder Wochenplänen
  • Beschäftigungsangebote in der Einrichtung, z.B. Großküche, Hausmeister, Garten, Waschküche
  • Einzelbeschulung
  • Praktika
  • Berufsorientierungslehrgänge
  • Überbetriebliche Ausbildung





7. Aufgaben und Fähigkeiten von Sozial- und Sexualpädagogin in Mädchenwohngruppen

In ihrer Arbeit als Sozial- und Sexualpädagogin nimmt diese verschiedene Rollen ein. „ Rollen sind Ausdruck von Machtverhältnissen.“ (S. 449, Gerhart, in: Wulf- Hrsg. 1984.6) Deshalb ist es wichtig, die eigene Rolle klar zu vertreten, vor den Mädchen, dem Team und der Heimleitung. Dazu muß sich die Pädagogin mit ihrer Rolle auseinandersetzen; sowohl mit der als Mitarbeiterin in einer Einrichtung, als auch mit ihrer Geschlechtsrolle.
Da Leitung Macht und Autorität bedeutet, ist es wichtig, Machtverhältnisse zu klären, gerade in Einrichtungen, in denen SozialpädagogInnen und ErzieherInnen eingestellt werden, es offiziell aber keine Gruppenleitung gibt. Das führt unter anderem zu Konkurrenz und Kompetenzstreitigkeiten und kann als Fehler im Gesamtkonzept gesehen werden, der geklärt und besprochen werden muß, da er immer wieder zu Unklarheiten führt.

An dieser Stelle ist es noch mal wichtig zu bemerken, daß die Pädagogin in Bezug auf die Mädchen Vorbildfunktion hat und Modell ist-bewußt oder unbewußt. Die Pädagogin soll die Mädchen bei der Entwicklung ihrer Identität unterstützen. Das kann sie nur, wenn sie wirklich leitet, Macht und Autorität besitzt und sich nicht auf eine Ebene mit den Mädchen stellt.

Um mit den Mädchen auf der Grundlage einer ganzheitlichen sexualpädagogischen Haltung arbeiten zu können, muß die Pädagogin bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln und aneignen:
Grundwissen über biologische Faktoren und Methoden der Sexualpädagogik, Grundlagen der Gesprächsführung, der Gruppendynamik und der allgemeinen Pädagogik, Klarheit um die eigene biographische Sexualität und - wie oben bereits erwähnt-eigene Rollen, Auseinandersetzung mit eigenen Werten und Normen, reflektierter Umgang mit Nähe und Distanz, Beziehungs- und Konfrontationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Wissen um persönliche Stärken und Schwächen und damit die Fähigkeit, Stellung zu beziehen und sich zu zeigen.

Die Aufgaben der Sozial- und Sexualpädagogin im Team sehe ich - neben der allgemeinen Arbeit - in Folgendem:

  • Als Gruppenleitung muß sie das Wohl ihrer Kolleginnen im Auge haben. Sie muß Unsicherheiten, Kränkungen, Unstimmigkeiten u.ä. erkennen und benennen können. Vielfach hilft dabei, sich gegenseitig in die andere hineinzuversetzen.
  • Sie muß deutlich machen, daß Identität nur da entwickelt werden kann, wo Sexualität und damit Gefühle, Raum haben und gelebt werden dürfen.
  • Sie muß zur Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, den eigenen Werten und Normen und der eigenen Sexualität auffordern. Dabei ist es wichtig, die eigene Haltung darzulegen und die Entwicklung eigener Standpunkte anzuregen.
  • Verschiedene Konzepte, Theorien und Arbeitsweisen müssen geklärt werden, um einander zu verstehen und sich abzustimmen.
  • Sie muß Mißbrauchssituationen erkennen und benennen.
  • Fähigkeiten, Neigungen und Kompetenzen müssen besprochen und entsprechend verteilt werden.
  • Sie muß Kontakt zur Leitung pflegen und Informationen weitergeben.

Als Gruppenleitung soll sie Kontakt zur Heimleitung halten, Ansprechpartnerin sein. Es sollten regelmäßige Gespräche stattfinden, in den Informationen weitergegeben, Entscheidungen gefällt, unterschiedliche Standpunkte besprochen und ihre Arbeit und die des Teams dargestellt werden können.

Sexualpädagogische Mädchenarbeit muß Bestandteil der Konzeption der Einrichtung sein.




8. Literaturverzeichnis

  • Konzeptionsentwurf der Wohngruppe Hirtenstraße und deren Überarbeitung
  • BZgA (Hrsg.); Rahmenkonzept zur Sexualaufklärung, Köln 1993, in: BZgA (Hrsg.); Sexualpädagogische Mädchenarbeit, Köln 1996
  • Ev. Jugendhilfe; Osnabrücker Mädchenhaus, Osnabrück
  • Wildwasser; Ausschreibung zur Zusatzausbildung zur Sexualpädagogin, Dortmund 1996
  • Gerhart, U.; Rollen, in: Wulf, Chr. (Hrsg.); Wörterbuch der Erziehung, München / Zürich: Serie Piper 6/1984
  • Jugendcafé Streethouse; Konzeption, Berlin 1995, in: BZgA (Hrsg.); Sexualpädagogische Mädchenarbeit, Köln 1996
  • Marburger, H.; Thema: Sexualität. Unterrichtseinheiten für die Hauptschule, Weinheim und Basel: BELTZ praxis 1982
  • Menke-Hille, J.; Zur Situation von Mädchen in unserer Lebenswelt. Ein theoretisch-praktischer Exkurs 1996
  • Münder, J. u.a.; Frankfurter Lehr- und Praxis-Kommentar zum KJHG, Münster: Votum Verlag 2/ 1993
  • PRO FAMILIA Landesverband NRW; Sexualpädagogische Mädchenarbeit, Wuppertal 1996
  • Projekt für Mädchen und junge Frauen, München 1995
  • Sielert, U. u.a.; Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit in Freizeit und Schule, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 1993


Dortmund, den 17. Mai 1998

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