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Birgit BaumannVom Nein zum Mißbrauch zum Ja zur SexualitätKonzeptionelle Ideen zur Unterstützung der Identitätsbildung in Mädchenwohngruppen
„Für die Mädchenarbeit gilt, daß Mädchen nicht
als defizitär und / oder Opfer gesellschaftlicher Strukturen gesehen
werden, sondern als ernstzunehmende Subjekte, die ihr Leben eigenverantwortlich
gestalten wollen und können.“ (Jugendcafé Streethouse 1995,
in: S. 45, BZgA 1996)
Gliederung
1. EinleitungWenn ich Sexualität nicht nur als Genitalität, sondern „als ein allgemeines Grundbedürfnis nach Lust, Kontakt, Zärtlichkeit und Nähe“ (S. 18. Marburger 1982) verstehe und als „Grundlage vieler Verhaltensweisen, die gewöhnlich nicht als ‘sexuell’ bezeichnet werden,“ als entscheidenden „Antrieb für interpersonale Kommunikation" und wichtigen „Faktor für personale Beziehungen“ (S. 16, Marburger 1982), auf der anderen Seite aber feststelle, daß Sexualität immer noch ein Tabuthema ist, sexuelle Sprachlosigkeit herrscht, Menschen mittels Sexualität und Emotionalität erniedrigt und entwertet werden, sexueller Mißbrauch zwar ‘in aller Munde’ ist, ihm aber immer noch mit Unsicherheit und Panik begegnet wird, Menschen eher fremd- als selbstbestimmt leben, Kommunikations- und Beziehungsunfähigkeit das Leben bestimmen und Leistung wertvoller ist als der Spaß und die Lust an der Sexualität und damit am Leben, wird für mich die Entwicklung und Etablierung einer ganzheitlichen sexualpädagogischen Haltung in der sozialen Arbeit immer wichtiger.
Ich möchte sexualpädagogisch arbeiten, um Menschen - hier
vor allem Mädchen - einen weitgefaßten, lust- und energiefördernden
Begriff von Sexualität nahezubringen, ihnen zu Eigenverantwortung
und Selbstbestimmung zu verhelfen, sie aus der Passivität, dem Opfer-sein,
in die Aktivität, das Leben zu führen; kurz: sie bei der Entwicklung
ihrer sexuellen Identität zu unterstützen.
Sexualpädagogisch arbeiten heißt daher nicht, irgendeine
spezielle Methode anzuwenden, sondern eine ganzheitliche sexualpädagogische
Haltung zu entwickeln, in der alle Erfahrungsebenen angesprochen werden,
und in der es um Lust, Verantwortung, Beziehung(en), Gefühle, Information,
Gespräch, Auseinandersetzung, Begegnung und Einfühlung in Personen
und Gruppen geht.
Sexualität - Was ist das eigentlich?
Ich sehe Sexualität eher wie Helga Marburger, Uwe Sielert und die
‘Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung’, die schreiben:
„Sie bedient sich des Mediums ‘Körper’ und hat vielfältige
Ausdrucksformen-als Zärtlichkeit, Leidenschaft, Hingabe, Sehnsucht
und Begierde oder auch als Aggression.“ (S. 14, Sielert u.a. 1993)
Sexualität ist „(...) ein existenzielles Grundbedürfnis des Menschen und ein zentraler Bestandteil seiner Identität und Persönlichkeitsentwicklung. Sexualität umfaßt sowohl biologische als auch psycho-soziale und emotionale Tatbestände und Vorgänge. Die Ausgestaltung von Sexualität deckt ein breites Spektrum von positiven bis zu negativen Aspekten ab, von Zärtlichkeit, Geborgenheit, Lustempfinden, Befriedigung, bis hin zur Gewaltanwendung und Machtausübung“. (S. 10, BZgA 1993 in: BZgA 1996)
Biologisch festgelegt ist einzig das Geschlecht des Menschen. Seine
Geschlechtsidentität entwickelt sich dagegen erst im Laufe der Zeit
und ist von vielen Faktoren abhängig, z.B. Wünsche und Erwartungen
der Eltern, Sozialisation, Rollenverhalten, Umwelt, Erfahrungen.
Sexualität hat aber leider auch schreckliche und unschöne Seiten, wenn
Die Auseinandersetzung mit allen Aspekten eigener Sexualität soll dazu führen, sich und seinen Körper kennenzulernen, zu akzeptieren und wertzuschätzen und somit zur Entwicklung von sexueller Identität. Ich kann meine Weiblichkeit, mein Frau-sein zeigen und eigenverantwortlich und selbstbestimmt leben. Mädchen soll dabei geholfen werden, ihr Leben selbst in die Hand
zu nehmen, Fähigkeiten und Stärken zu entdecken und zu fördern,
durch Gewalt, Mißbrauch und Vernachlässigung erlittene Verletzungen
zu erkennen und zu bearbeiten, von der Passivität, dem Schwach-Fühlen
zur Aktivität, dem Stark-Fühlen zu gelangen, damit sie eigenverantwortlich
mit sich, ihrer Sexualität und anderen umgehen können.
Im Sinne einer ganzheitlichen sexualpädagogischen Haltung möchte
ich ein Konzept entwickeln für die Arbeit von Sozial- und Sexualpädagoginnen
in Mädchenwohngruppen.
2. Warum Arbeit mit Mädchen?
§ 9.3 des neuen KJHG fordert die Berücksichtigung der
unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen, den Abbau von
Benachteiligungen und die Förderung von Gleichberechtigung.
Noch immer haben Männer in unserer patriarchalen Gesellschaft im
öffentlichen Bereich eine Vormachtstellung inne und besetzen auch
in der Wirtschaft die hochbezahlten Jobs.
Viele Mädchen, besonders in der sogenannten ‘Unterschicht’,
kommen aus Familien, in denen rigide Strukturen herrschen, sich die ‘klassische’
Rollenverteilung findet und ein starkes Gefälle zwischen den Geschlechtern
und Generationen.
In ihrer Sozialisation geht es nach wie vor immer noch zu wenig um Erziehung
zu Autonomie und Eigenverantwortung, sondern eher um eine Gewöhnung
an Benachteiligungen. Die Mädchen sollen sich an ihrer Familie und
dem jeweiligen Frauenbild orientieren. Ihr Weggehen mit Freundinnen und
Freunden, ihre Freizeitgestaltung, ihr Umgang, ihre Kleidung u.ä.
unterliegen starken Beschränkungen. Sie werden immer noch weniger
gesehen und beachtet, ihre Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen
nicht registriert. Sie halten sich deshalb für unwichtig und wertlos.
Eine Zuspitzung dieser Beschränkungen und Verletzungen findet sich
im Bereich von Sexualität.
Sexualität zu erfahren und zu leben. Ihr Alltag ist vielmehr „durch den Widerspruch zwischen einer bejahenden, lustvollen und selbstbestimmten Sexualität und struktureller oder direkter Gewalt (z. B. Vermarktung des weiblichen Körpers, sexueller Mißbrauch, Vergewaltigung ) geprägt“. (S. 3, Pro Familia 1996) Pädagoginnen sollen mit Mädchen arbeiten, um sie bei der Entwicklung
einer bejahenden, lustvollen und selbstbestimmten Sexualität zu unterstützen,
die ein gelungenes Verhältnis zu sich, ihrem Körper und ihrem
Frau-sein beinhaltet und somit weibliche Identität bedeutet.
3. Die besondere Situation von Mädchen in Heimen
Die Erfahrung hat gezeigt, daß nahezu alle Mädchen, die
in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe aufgenommen werden, in
ihren Familien oder dem nahen Umfeld, sexuellen Mißbrauch erlitten
haben-wobei der oft damit einhergehende, aber auch separat stattfindende
emotionale und körperliche Mißbrauch in seinem Erleben und seinen
Auswirkungen ähnlich ist.
Die meisten Mädchen leiden als Folge von Gewalt- und Mißbrauchssituationen
unter Traumatisierungen und Identitätsstörungen. „Die körperliche,
seelische und geistige Integrität wird nachhaltig verletzt und / oder
zerstört. Die Mädchen... entwickeln Überlebensstrategien,
um mit den Folgen dieser Verletzungen und Zerstörung ‘leben’ zu können.
Sie entwickeln Symptome wie Trebegehen, Deliquenz, Depressivität,
Suizidalität, Eßstörungen, Drogenabhängigkeit, Autoaggressionen
oder psychosomatische Störungen.“ (S. 13, Ev. Jugendhilfe)
Ihre tiefgreifenden Scham- und Schuldgefühle dehnen sie häufig
auch auf andere Bereiche aus. Sie spüren ihren Wert nicht, trauen
sich nichts zu, glauben, nicht geliebt werden zu können.
Die Mädchen haben eine niedrige Frustrationstoleranz und auffällige
‘Konfliktlösungsstrategien’, was besonders im Bereich von Schule und
Ausbildung immer wieder zu Schwierigkeiten führt. Aufgrund ihrer besonderen
Situation ist es ihnen manchmal
nicht möglich, einen Schul- oder Berufsalltag einzugehen bzw. durchzuhalten. Die Angst zu versagen ist groß und führt gerade dadurch oft dazu. „Fremdbestimmt (und entwertet) zu sein und den eigenen Empfindungen
als Orientierung nicht trauen zu können, hat in vielerlei Hinsicht
schwerwiegende Folgen, gerade auch für die sexuelle Erlebnisfähigkeit
und für die eigene Körperwahrnehmung. Es führt zu psychischer
Abhängigkeit und nicht zuletzt dazu, das Frau-Werden zu verweigern.“
(S. 12, Projekt für Mädchen und junge Frauen 1995)
4. Förderung der Identitätsbildung in Mädchenwohngruppen
Wie beschrieben, erleben sich die Mädchen, die in Mädchenwohngruppen
aufgenommen werden, oft als ohnmächtig, hilflos und fremdbestimmt.
Vielfach haben sie keinen Zugang zu ihren Gefühlen, sind sie aggressiv
oder depressiv. Sie spüren ihren Wert nicht und haben keine Lebensperspektive.
Sie sind Opfer, dehnen diese ‘Opferrolle’ aber auch auf andere Bereiche
aus.
Die Arbeit mit einer ganzheitlichen sexualpädagogischen Haltung
ist ein Weg, die Mädchen bei der Entwicklung einer weiblichen, sexuellen
Identität zu unterstützen und zu begleiten.
Sexualpädagogik ist (Grundlage von) Beziehungsarbeit. Beziehung
bedeutet Konfrontation und Nähe, schließt Arbeit auf Angstbasis
aus und hat mit Vertrauen, Verstehen und Wahrnehmung zu tun, mit Respekt
und Grenzen.
Die Pädagogin soll den Mädchen spielerisch, aber nicht in
einer ‘verkrampften’ Locker- bzw. Offenheit gegenübertreten. Sie muß
beachten, daß Intimität und somit das Reden über Sexualität
mit Scham, Ängsten, Unsicherheit u.ä. verbunden ist. Diese zeigen
Grenzen auf und sind wichtig. Deshalb dürfen sie nicht überspielt
werden, sondern müssen ernstgenommen, zugestanden, besprochen und
überprüft werden. Echtheit, Ehrlichkeit und Wahrung der Grenzen
tragen dazu bei, daß sich die Mädchen aufgehoben fühlen
können.
Es gilt ein Klima zu schaffen, in dem die Mädchen Schutz erfahren, Geborgenheit erleben und Vertrauen fassen können. Dies bedeutet auch, Raum zu lassen, der frei ist von Beobachtung, Leistungs- und Konkurrenzdruck und autoritären Sanktionen-anders als sie es von Zuhause kennen. Das bedeutet vor allem auch, sie individuell dort abzuholen, wo sie stehen und ihnen Wertschätzung und Akzeptanz zu vermitteln. Überforderungen sind auf jeden Fall zu vermeiden. Um die in der Familie erlebte Isolation zu beenden, müssen die
Mädchen beim Aufbau und der Gestaltung von freundschaftlichen Beziehungen
und von Freizeit unterstützt werden.
Die Pädagogin soll die Mädchen dabei unterstützen, ihre
sexuelle Sprachlosigkeit zu überwinden, sowohl in Bezug auf die Tabuisierung
von Sexualität, als auch in Bezug auf erlebten Mißbrauch. Da,
wo über Sexualität geredet werden kann, kann nämlich auch
leichter über Mißbrauch geredet werden. Das bedeutet erst mal,
eine gemeinsame Sprache zu finden, aber auch deutlich zu machen, daß
sie-je nach Situation und Erleben-unterschiedliche Ausdrucksformen
haben kann.
Die Auseinandersetzung mit Sexualität soll dazu führen, daß die Mädchen sensibler und offener mit sich werden. Es geht darum, sie in Kontakt mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Erfahrungen zu bringen, damit sie diese erkennen, formulieren und leben können. Sie können eigene Vorstellungen über Sexualität entwickeln, andere Lebens- und Liebesformen eher tolerieren lernen, Unterschiede im Wünschen und Verlangen, aber auch in den Problemen von Mädchen und Jungen entdecken. Oftmals gilt auch heute noch das Streben nach Lust als Sünde;
sexuelle Wünsche und Regungen rufen-vor allem bei Mädchen -
Zweifel, Schuldgefühle und schlechtes Gewissen hervor. Die Mädchen
wissen oft nicht mehr, was gut für sie ist, wie sie Ihr Leben leben
und gestalten wollen, da sie ihre Gefühle und Wünsche bzgl. Sexualität
zwar oftmals spüren, sie aber nicht leben dürfen bzw. verurteilen
müssen.
Hier gilt es, die Mädchen zu unterstützen, eine eigene Wertposition zu entwickeln, Werte und Normen zu überprüfen und die zur Selbstbestimmung notwendigen Informationen zu vermitteln. Die Entwicklung einer eigenen Wertposition kann dadurch geschehen, indem
die Pädagogin die Mädchen zur Auseinandersetzung mit Werten und
Normen anregt-individuellen wie gesellschaftlichen.
Dazu gehört es auch, Aufklärung zu leisten. Die meisten Jugendlichen
halten sich zwar für sexuell aufgeklärt, haben aber dennoch große
Lücken und fühlen sich unsicher. Vieles ist tabuisiert und dadurch
mystisch. Das macht Angst. Aufklärung soll zur Beschäftigung
mit dem eigenen Körper anregen und helfen, körperliche Vorgänge
zu verstehen und dadurch eher zu akzeptieren.
Zur Aufklärung gehört auch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und mit dem Gebrauch von ‘Sexualität und Sprache’, z.B. in der Werbung. Das läßt Benachteiligungen und die Abwertung der Frau in der Gesellschaft eher erkennen und hilft, ihr entgegenzuwirken. Die Überprüfung von Werten und Normen soll dazu führen, daß Mädchen den Wert von Lust erkennen und entdecken, daß es auch ihnen erlaubt ist, lustvoll zu leben und daß Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Geschlechtlichkeit, Gefühle, gelungene Sexualität, Beziehungsfähigkeit, Wissen um Stärken und Schwächen, Wünsche und Bedürfnisse die eigene Identität an sich bedeuten. Das ist wichtig, da Lust an der Sexualität, und damit am Leben, Leben selbst ausmacht. Sexualität positiv und lustvoll zu erleben und weibliche, sexuelle
Identität zu entwickeln, fällt da besonders schwer, wo Sexualität
von ihrer gewaltsamen und schrecklichen Seite erlebt wurde, was bei den
meisten Mädchen in Heimen oder Wohngruppen der Fall ist.
Um die Mädchen aus ihrer ‘Opferrolle’ heraus zu führen, ist es wichtig, sie erst mal so anzunehmen, wie sie sind. Das heißt vor allem, sie als Mädchen zu sehen, die Mißbrauch erlitten haben, sie aber nicht darauf festzulegen. Der Mißbrauch darf nicht allein gesehen werden, sondern in seiner Beziehungsgeschichte, mit allen familiendynamischen Facetten. Signale, Widerstandsformen und Überlebensstrategien müssen als solche wahrgenommen und dürfen nicht mißdeutet werden. Es gilt, den Mädchen die Möglichkeit zu geben, das Erlittene anzusprechen. Den Mädchen ist das falsche Verantwortungsgefühl zu nehmen. Nicht sie sind für den Mißbrauch verantwortlich, sondern ganz allein der / die TäterIn. Eine realistische Betrachtungsweise kann dann auch Gefühle wie Wut, Trauer, Enttäuschung eher zulassen. Wichtig ist es hierbei, ihnen zu vermitteln, daß diese Gefühle o.k. und berechtigt sind. Dann ist auch wieder Raum da für Gefühle wie Freude, Lust, Freiheit, Geborgenheit. Mit den Mädchen ist Trauerarbeit zu leisten im Hinblick auf das ‘Wunschbild’ Familie und eine nicht gelebte Kindheit. Gewünschte Kontakte zu Familienmitgliedern müssen oft neu aufgenommen, begleitet und bearbeitet werden. Da Mißbrauch immer mit Grenzverletzung zu tun hat, ist das Aufzeigen und Wahren von Grenzen besonders wichtig. Ihr Recht auf Selbstbestimmung und körperliche und seelische Unversehrtheit ist zu verdeutlichen, ergibt sich aber aus dem Konzept ‘Vom Nein zum Ja’. Die Pädagogin soll die Mädchen dabei unterstützen, ihre
Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und zu formulieren, sie aber
auch mit ihrem Verhalten, ihren Ängsten und Vermeidungen konfrontieren.
Dabei geht es u.a. darum, ihnen aufzuzeigen, daß sie sich immer wieder
selbst zum Opfer machen, wenn sie andere über sich bestimmen lassen,
Neues vermeiden, ihr Leben nicht selbst in die Hand nehmen und eigenverantwortlich
mit sich und ihrer Sexualität umgehen. Die Mädchen sollen lernen,
Initiative zu ergreifen, ihre Sexualität und ihr Leben, ihr Glück
oder Unglück nicht von anderen abhängig zu machen.
Es gilt, einen Prozeß zu begleiten: Vom Nein zum Mißbrauch, zum Ja zur Sexualität! Mädchen mit sexuellen Gewalterfahrungen, aber auch viele andere, setzen Sexualität oft mit Schmutz, Grenzverletzung, Demütigung, Schuld u.ä. gleich. Sie unterdrücken oder wissen nicht von ihren sexuellen Bedürfnissen, weil sie Sexualität als entwertend und erniedrigend erlebt haben bzw. sie um die gesellschaftlichen Erwartungen wissen, nach denen Sexualität Mädchen häufig nur unter dem Aspekt von Ehe und Fruchtbarkeit zugestanden wird, aber nicht unter dem von Lust. Hier sollen sie ermutigt werden, Bedürfnisse und Wünsche zu entdecken und zu formulieren, neue Erfahrungen zu sammeln, Sexualität als lust- und energiespendend zu erleben, Sexualität nicht mit Mißbrauch gleichzusetzen. Denn wenn die Mädchen entdecken und wissen, was sie wollen, dann wissen sie auch, was sie nicht oder nicht mehr wollen. Sie können sich selbst akzeptieren und werden frei, da sie nicht mehr auf die Anerkennung durch andere angewiesen sind. Sie können selbstbestimmt und über ihre Gefühle geleitet leben. Weg von den Ängsten, der Vermeidung von Sexualität und Beziehung,
hin zur gelungenen Sexualität, zu Lust und Leben. Ja statt Nein führt
zum Wahren von Grenzen, zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, zu
weiblicher, sexueller Identität und ist beste Prävention.
5. Haltung der Einrichtung zur SexualitätSexualität / Geschlechtsverkehr ist laut Jugendschutzgesetz ab dem Alter von 16 Jahren erlaubt. Aus Angst vor einer möglichen Schwangerschaft, dem Ansehen in und dem Druck aus der Öffentlichkeit, aber vor allem auch aufgrund von starker Unsicherheit auf seiten der MitarbeiterInnen, wird Sexualität in all seinen Facetten-hier meine ich nicht nur Geschlechtsverkehr-in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe selten zugelassen und thematisiert, sondern im Gegenteil vielfach sanktioniert und ‘totgeschwiegen’. Ausgehend von den Werten und Normen kirchlich-diakonischer Einrichtungen bzgl. Sexualität-wobei der Umgang mit Sexualität in Einrichtungen mit anderem Wertehintergrund nicht unbedingt anders ist -, ist dieses vielleicht auch erst mal verständlich. Hier wird Sexualität oft eingeschränkt gesehen und an bestimmte Bedingungen gekoppelt, z.B. ‘Kein Sex vor der Ehe’, Sex = Mittel zum Zweck (Fruchtbarkeit). Angesichts dieses Werte- und Normenhintergrundes, der oftmals zwar nicht
direkt ausgesprochen, von vielen MitarbeiterInnen und der Heimleitung aber
vertreten wird, ist es nicht verwunderlich, daß Sexualität im
weitesten Sinnen im Alltag ausgespart wird und Ängste und Unsicherheiten
auf allen Ebenen auslöst.
Der Zusammenhang zwischen steigender Gewaltbereitschaft und zerstörerischer Aggression auf der einen Seite und dem Nicht-Raum-Geben von Sexualität im weitesten Sinne auf der anderen, ist meiner Meinung nach nicht bekannt. Wo Sexualität und damit Gefühl nicht gelebt werden dürfen, fühlen sich die Kinder und Jugendlichen in ihrer Person entwertet. Diese unterdrückten Gefühle und sexuellen Regungen führen zu Aggressionen und Gewalt. Statt dessen werden Kinder und Jugendliche darüber definiert, wie
sie sich in das Gruppengeschehen einfügen, sie in Schule bzw. Ausbildung
zurechtkommen. Die Kinder und Jugendlichen müssen funktionieren, die
BetreuerInnen / die Arbeit werden für gut befunden, wenn der ‘Laden
läuft’. Wenn auch sicherlich zum Teil richtig, findet auch hier wieder
Erziehung zur Anpassung statt. Das Kind / der Jugendliche ist ‘lieb’, funktioniert,
um Anerkennung oder Vergünstigungen zu bekommen.
Daß Identitätsentwicklung im wesentlichen von gelungener
Sexualität und damit von der Auseinandersetzung Kinder und Jugendlicher
mit dieser abhängt, ist den meisten leider nicht bekannt.
6. Äußere und innere RahmenbedingungenUm die Mädchen bei der Entwicklung ihrer Identität begleiten und sexualpädagogisch arbeiten zu können, sind folgende Rahmenbedingungen nötig:
6.1. Lage, Ausstattung und Belegung der WG
6.2. Mitarbeiterinnen
6.3. Schulische und berufliche Integration
Wie bereits in Kapitel 3. beschrieben, fällt es den Mädchen
aufgrund ihrer Situation oft schwer, den Schul- und Berufsalltag einzugehen
bzw. durchzuhalten.
7. Aufgaben und Fähigkeiten von Sozial- und Sexualpädagogin in Mädchenwohngruppen
In ihrer Arbeit als Sozial- und Sexualpädagogin nimmt diese
verschiedene Rollen ein. „ Rollen sind Ausdruck von Machtverhältnissen.“
(S. 449, Gerhart, in: Wulf- Hrsg. 1984.6) Deshalb ist es wichtig, die eigene
Rolle klar zu vertreten, vor den Mädchen, dem Team und der Heimleitung.
Dazu muß sich die Pädagogin mit ihrer Rolle auseinandersetzen;
sowohl mit der als Mitarbeiterin in einer Einrichtung, als auch mit ihrer
Geschlechtsrolle.
An dieser Stelle ist es noch mal wichtig zu bemerken, daß die Pädagogin in Bezug auf die Mädchen Vorbildfunktion hat und Modell ist-bewußt oder unbewußt. Die Pädagogin soll die Mädchen bei der Entwicklung ihrer Identität unterstützen. Das kann sie nur, wenn sie wirklich leitet, Macht und Autorität besitzt und sich nicht auf eine Ebene mit den Mädchen stellt. Um mit den Mädchen auf der Grundlage einer ganzheitlichen sexualpädagogischen
Haltung arbeiten zu können, muß die Pädagogin bestimmte
Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln und aneignen:
Die Aufgaben der Sozial- und Sexualpädagogin im Team sehe ich - neben der allgemeinen Arbeit - in Folgendem:
Als Gruppenleitung soll sie Kontakt zur Heimleitung halten, Ansprechpartnerin sein. Es sollten regelmäßige Gespräche stattfinden, in den Informationen weitergegeben, Entscheidungen gefällt, unterschiedliche Standpunkte besprochen und ihre Arbeit und die des Teams dargestellt werden können.
Sexualpädagogische Mädchenarbeit muß Bestandteil der
Konzeption der Einrichtung sein.
8. Literaturverzeichnis
Dortmund, den 17. Mai 1998 |
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